Die gantze Heilige Schrifft Deudsch
D. Martin Luther, Wittenberg 1545
Eine Bildbesprechung
Der selbe Holzschnitt wird in der Lutherbibel von 1545 als Titelbild für das Evangelium nach Lukas verwendet.
Der Apostelgeschichte ist im ersten Kapitel ein Bild vorangestellt, das den Evangelisten Lukas zeigen soll. Der Druckstock ist als Holzschnitt erstellt worden, der die Maße ca. 15 x 11 cm besitzt.
In der Lutherbibel von 1545 kam der selbe Holzschnitt zum Einsatz, der bereits in früheren Auflagen verwendet wurde, so auch in der ersten Gesamtausgabe von 1534.
Auf der Rückseite des Lesepults, vor dem Lukas sitzt, hatte der Künstler mit seinen Initialen »MS« und mit der Jahreszahl »1532« den Druckstock signiert. Bis heute ist unklar, wer dieser Künstler war, der mit »MS« signierte, und der maßgeblich an der grafischen Gestaltung der Lutherbibeln beteiligt war.
In der Ausgabe von 1534 wurde der Druck nachträglich von Hand aufwendig koloriert. Dadurch treten die Feinheiten des detailreichen Bildes deutlich hervor. Gleichzeitig vermittelt das kolorierte Bild einen bemerkenswerten Eindruck des Raums mit seiner Ausstattung, der dem Künstler als Vorlage für sein Motiv diente. Es ist somit ein Blick in die Zeit Luthers.
Wir zeigen hier zum Vergleich das Bild aus der Ausgabe von 1545, Apostelgeschichte, Kapitel 1, und den nachträglich kolorierten Druck aus der Ausgabe von 1534 aus einer Vorlage zum Lukasevangelium.
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Abbildung: »Der Evangelist Lukas«
Titelbild zum Evangelium nach Lukas in Luthers Biblia 1545.
Abbildung: Titelbild zum Evangelium nach Lukas in der Lutherbibel von 1534.
Das Bild zur Apostelgeschichte basiert auf dem selben Holzschnitt, Jedoch zeigt es z. T. andere Farben. Es weist darauf hin, dass jedes einzelne Bild von Hand koloriert wurde, und die Farbgebung bei sekundären Farben (z. B. bei Wänden, Teppichen und Kleidung) sogar in den einzelnen Exemplaren der selben Auflage nicht einheitlich sein muss. Bilder, die ggf. andere Farben zeigen, bestätigen diese Regel.
Zu sehen ist der Evangelist Lukas, sitzend in nachdenklicher Pose über einem Buch, an dem er gerade schreibt, und das offensichtlich von Jesus Christus handelt.
Warum es Lukas sein muss und niemand anderes sein kann, ist an mehreren Symbolen zu erkennen: am Heiligenschein, am Stier im Vordergrund und an der Staffelei links im Bild.
Traditionell gilt Lukas als der Verfasser der Apostelgeschichte. Sein Gesamtwerk ist in zwei Teile aufgeteilt: Das Evangelium und die Apostelgeschichte.
Der Nimbus, der »Heiligenschein«, ist seit der Antike ein Symbol in der Kunst und seit der frühen Ikonographie auch in christlich motivierten Abbildungen zu finden. Als Ring oder Strahlenkranz umgibt er den Kopf einer Person oder schwebt in geringem Abstand darüber.
Der Nimbus ist in der christlichen Religion den Abbildungen von Jesus Christus, von Päpsten, von Engeln und von Heiligen vorbehalten.
Der Nimbus über der sitzenden Person kennzeichnet sie in diesem Fall als Heiligen. Zu ihnen zählen auch die Evangelisten.
Zu sehen ist in diesem Bild ein weiterer Nimbus, weitaus strahlender (weil größer im Verhältnis zum Kopf!) über dem gekreuzigten Jesus.
Auch über dem Kopf des Stieres im Vordergrund leuchtet ein Strahlenkranz. Dennoch: Die christliche Religion kennt keine heiligen Kühe. Wenn eine auftritt, ausgestattet mit dem Nimbus oder mit Flügeln, die an die Flügel eines Cherub erinnern, dann ist sie nur ein Symbol: das Symbol des Evangelisten Lukas, der geflügelte Stier.
Im Vordergrund links ist das Evangelistensymbol des Lukas gezeigt: Der Stier. Allerdings genügte es dem Künstler, den Stier nur teilweise abzubilden. Dennoch wusste Jeder religiös gebildete Betrachter, warum sich in einer so gut eingerichteten Stube ausnahmsweise ein Stier befindet. Um jedes Missverständnis auszuschließen, ließ der Künstler auch über dem Stier den Nimbus leuchten. Damit ist die Verbindung zur Person am Tisch eindeutig hergestellt. Es ist Lukas.
Der Stier ist bereits seit dem 2. Jahrhundert ein Symbol für das Lukasevangelium bzw. für Lukas selbst.
Irenäus von Lyon (ca. 135 bis 200 n. Chr.) ordnete erstmals die vier Symbole, die in Offb 4,7 und Hes 1,10 genannt werden (Mensch, Löwe, Stier, Adler), den vier Evangelien zu. Im 4. Jahrhundert war es schließlich Hieronymus, der die Symbole der Evangelisten so bestimmte, wie wir sie auch in den Bildern der Lutherbibeln wiederfinden.
Der Künstler stützt sich bei der Symbolik in seiner Bildkomposition auf Hieronymus und eine lange Kirchentradition, die zu Luthers Zeit noch im Allgemeinwissen verankert war.
Diese Symbolik war bereits lange vor Luther gebräuchlich und wurde von seinen Lesern entweder auf Anhieb verstanden oder auf diese Weise, durch die bildliche Darstellung, in den Gemeinden, Haushalten und Schulen neu gelehrt und erlernt.
Die nebenstehende Abbildung zeigt die vier Evangelistensymbole vereint in einem Bild.
Abbildung: Die Evangelistensymbole auf dem Titelbild von Luthers Schrift Omnia Opera.
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Der Holzschnitt von Lucas Cranach d. J. zeigt Luther und Kurfürst Johann Friedrich I. unter dem Kreuz. In den Ecken befinden sich die vier Evangelistensymbole Mensch (Engel), Löwe, Stier und Adler. Die Zuordnung der geflügelten Wesen findet zusätzlich über die Beschriftung statt.
Credits:
Bearbeitung der Vorlage: Adaptiert für Stilkunst.de
Im linken Bildteil findet sich eine Staffelei. Auf der Sitzbank sind eine Farbpalette, ein Pinsel und ein Führungsstab zu sehen, wie sie ein Maler bei der Anfertigung eines Ölgemäldes benötigt.
Auf der Fensterbank dahinter stehen weitere Utensilien wie Spachtelmesser, Farbkästen und Pinsel. Die beiden roten, runden Flächen auf der Fensterbank sind nicht leicht zu identifizieren. Es sind entweder Farbtiegel, die zum Anrühren und Mischen von Farben genutzt wurden, oder es ist eine kleine geöffnete Dose (deren Deckel vorne liegt), in der beispielsweise Farbpigmente aufbewahrt gewesen sein könnten. Aber jeder andere, ähnliche Gegenstand ist denkbar.
Wenn sich der Maler zwischen Fenster und Staffelei stellt, bleibt ihm in dieser Szene nur der Stier als Motiv. Doch dies trifft den Sinn sicher nicht.
Die Staffelei ist nur teilweise und von hinten zu sehen. Wir sehen nicht das Bild, das gerade entsteht und wir sehen den Maler nicht. Oder doch?
Die Staffelei und die Utensilien sind weitere Symbole für den Evangelisten Lukas, der in der römisch-katholischen Kirche auch als Schutzpatron der Kunstmaler galt.
Zurückgeführt wird das auf eine spät entstandene Legende, nach der Lukas die Jungfrau Maria sowie die Apostel Petrus und Paulus gemalt habe. Er galt deswegen auch als der erste Ikonograph der Kirchengeschichte. Wie es zu dieser Vorstellung kam, ist jedoch unklar.
Fest steht: Der Künstler »MS« hat diese Vorstellung, die zu seiner Zeit geläufig war, in seinem Holzschnitt durch die Staffelei symbolisiert und damit ein weiteres Attribut zur Person des Lukas hinzugefügt.
Nebenbei gewährt uns der Künstler in diesem Holzschnitt einen Blick in einen Raum, in dem zu dieser Zeit gerade ein Porträt gefertigt wurde. Ölgemälde von Luther und von Personen aus seinem Umfeld sind aus dieser Zeit (um 1532) bekannt. Es ist leicht vorstellbar, das beispielsweise Luther, der Kurfürst oder Melanchthon in einer solchen Umgebung einem Maler wie Lucas Cranach Modell saßen. Ein Arbeitsraum kann so ausgesehen haben, zumal die Staffelei geschickt vor dem Fenster positioniert ist, das nur geöffnet werden muss, um dem Maler das nötige Licht zu bieten.
Die Staffelei im Zimmer einer Burg oder eines Herrschaftshauses ist daher keine Besonderheit. Tatsächlich ist es auch vorstellbar, dass für die Herstellung der Holzschnitte zunächst Ölgemälde als Vorlagen gefertigt wurden. Das größere Format bietet jedenfalls Raum für viele Details. Ein solches Gemälde kann anschließend leicht in ein kleineres Format kopiert werden und eine farbige Vorlage wäre für die Koloristen geradezu ideal gewesen, um die Drucke mit den richtigen Farben auszumalen.
Dann wären bei der Fertigung der Drucke mit einem Holzschnitt mindestens vier Personen beschäftigt gewesen: der Kunstmaler, der das Motiv entworfen und auf Leinwand gemalt hatte, der Stempelschneider, der danach den Holzschnitt angefertigt hatte, der Drucker, der den Druckstock in den Satzspiegel einbrachte und das Blatt druckte und der Kolorist, der das gedruckte Bild nach einer Vorlage ausmalte.
Das aufgeschlagene Buch wird nicht gelesen, es wird gerade geschrieben. Indizien dafür finden sich im Schreibpult, auf dem das Buch derzeit ruht, und in den Schreibutensilien, die neben dem Pult griffbereit liegen. Solche Schreibpulte mit schräg gestellter Arbeitsfläche waren üblich, um die Federführung zu erleichtern und um ein gleichmäßiges Schriftbild über die gesamte Seitenhöhe zu ermöglichen.
Diese Indizien sind hinreichend, um die Person, die vor dem Buch sitzt und womöglich gerade über eine Formulierung nachsinnt, als Autor des Werks auszumachen.
Das aufgeschlagene Buch kann in diesem Zusammenhang nur als das Evangelium nach Lukas interpretiert werden.
Auf dem Tisch liegt rechts neben dem Pult ein zweites Buch, das einen länglichen (aber nicht lesbaren) Titel trägt. Wir wissen nichts darüber. Nur so viel: Lukas wird in der Kirchentradition auch als Autor der Apostelgeschichte angesehen, die bei Luther den Namen trägt: Das ander teil des Euangelij S. Lucas: Von der Apoſtel Geſchichte.
Lukas hatte also zwei Bücher verfasst. Beide werden offensichtlich hier gezeigt als weiteres Kennzeichen für die Person des Lukas, der hier am Tisch sitzt.
Durch das offene Fenster ist der gekreuzigte Christus zu sehen. Dieser Teil des Bildes ist in mehrfacher Hinsicht irreal. Scheinbar blickt Lukas auf den Gekreuzigten, doch die Perspektive stimmt nicht. Von seinem Platz aus kann Lukas das Kreuz nicht sehen. Und selbstverständlich war Jesus längst gekreuzigt und auferstanden, als das Lukasevangelium niedergeschrieben wurde.
Der gekreuzigte Christus ist in diesem Bild als Symbol für den Inhalt und als Garant für die Wahrheit des Buches zu verstehen.
Inhaltlich geht es um das Leben und um den Tod Jesu, doch mehr noch: um das Opfer, das der Sohn Gottes gebracht hat, und um die Auferstehung. Es geht um die »Gute Nachricht«, um das »Evangelium«. Das Kreuz versinnbildlicht den Sühnetod, der Nimbus die Göttlichkeit und die Auferstehung, die Komposition aus beidem symbolisiert das Evangelium.
Lukas, vor dem Buch sitzend, blickt sinnierend in den Himmel und erwartet von dort die Inspiration für sein Werk und für seine Formulierungen. Der Himmel aber liefert ihm die Geschichte Jesu Christi.
Lukas selbst war nämlich kein Augenzeuge, wie er in Lk 1,1-4 schreibt. Er gehörte nicht zum Kreis der Jünger und kannte Jesus nicht persönlich. Vielmehr fand er es gut, all das, was er »mit Fleiß erkundet« hatte von den Augenzeugen, niederzuschreiben. (Lk 1,3). Sein Werk ist also von ihm aus purem Hörensagen entwickelt worden. Das Bild aber unterstreicht, dass sein Evangelium anerkannt ist. Es wurde quasi von Christus selbst autorisiert, womit sich jegliche Kritik daran erübrigt, obwohl Lukas kein Augenzeuge war.
Jetzt stimmt auch die Perspektive: Der gekreuzigte Christus blickt aus dem Hintergrund auf die gesamte Szene und scheint in Augenkontakt mit dem Stier zu sein, der das Evangelium des Lukas repräsentiert. Christus beobachtet aus der Ferne das Tun des Lukas, damit Du, lieber Leser, »erfahrest den sicheren Grund der Lehre, in welcher du unterrichtet bist. «(LK 1,4).
Zwar passt dieser Teil der Szene eher zum Lukasevangelium selbst, doch verliert die Aussage in Bezug auf die Apostelgeschichte nicht ihre Bedeutung.
Der Raum ist als Arbeitszimmer gestaltet. Auf dem Schreibtisch befindet sich ein Schreibpult. Griffelkasten, Lineal (für das Herstellen von Linierungen), Tintenfass und wohl ein Löschabroller runden die Schreibtischutensilien ab.
Der Schreibtisch selbst ist wie die umlaufende Sitzbank aus massiven Holz gefertigt. Einen besonderen Schreibtischstuhl sucht man vergebens. Kissen und ein schwerer Wandteppich bieten den nötigen Sitzkomfort und in der kalten Jahreszeit Schutz vor der Kälte der Wände und des Holzes.
An den Wänden hängen Wandlampen, die scheinbar mit einem butzenartigen Streuglas ausgestattet sind, hinter dem dann vermutlich eine Wachskerze vor einem Reflexionsspiegel brannte. Die Lampe hinter Lukas scheint zur Staffelei hin ausgerichtet zu sein.
Die Fenster sind verglast, und zwar mit den damals üblichen Butzenscheiben aus grünem Waldglas, die mit Bleiruten zu Fensterflächen verbunden wurden. Der Holzschnitt ist so detailreich gearbeitet, dass sogar in den runden Butzenscheiben die »Butze« selbst, die kleine, produktionsbedingte Erhöhung in der Mitte des Glases, sowie die durch das Drehen bei der Fertigung entstehenden kreisförmigen Strukturen zu erkennen sind.
Die beiden hinteren Fenster enthalten zentral eine rote Scheibe mit einem Motiv darin, das nur vage ausgeführt ist. Die Linienführung lässt darauf schließen, dass es sich um Wappen in Schildform handelt, die von Schmuckmotiven umgeben sind (Girlanden, Laub). Ein Indiz dafür, dass in den realen Fenstern, die als Vorlage dienten, solche Wappenbilder eingebracht waren, hier aber anonymisiert sind, um den gezeigten Lukas nicht endgültig in die Zeit und in die Räumlichkeiten des Kurfürsten zu Sachsen Freiheit zu versetzen.
Dennoch weist dies nicht zuletzt auf eine gewisse »Herrschaftlichkeit« des Hauses hin. Denn man konnte sich die heiligen Evangelisten nicht anders vorstellen, als in einer Umgebung, die dem Lebensraum eines Königs gleich kam. Die Kleidung des abgebildeten Lukas unterstreicht diesen Eindruck noch, vom Mantel bis zu den Strümpfen und Schuhen.
Sinn der Titelbilder war es, den jeweiligen Autor umfänglich vorzustellen, ohne ein einziges Wort dem gedruckten Text hinzufügen zu müssen.
Wie die übrigen Abbildungen in den Lutherbibeln jener Zeit ist auch dieses Bild vollgestopft mit Informationen, die im Wesentlichen über Symbolik transportiert werden. Die Bilder sind hochgradig verdichtete Informationsträger und keineswegs nur schmückendes Beiwerk.
Die Künstler, die diese Bilder entworfen hatten, waren Meister der Mediengestaltung. Sie nutzten kleinste Flächen, um ganze Geschichten zu erzählen. Sie schnitten mit einem Stecheisen aus einem kleinen Holzblock derart genau, dass die vielen Details auf dem Zielmedium im Druck trotz dicker Druckerschwärze und faseriger Papiere erkennbar blieben!
Verstand man es, diese Bilder »zu lesen«, konnten daraus wieder die Geschichten entwickelt und nacherzählt werden. Dies war vor allem für jene Betrachter wichtig, die des Lesens unkundig waren oder Hilfen benötigten, um die durchaus schwierigen Texte der Bibel zu verstehen. Die Bilder waren ein wichtiger Anreiz dafür, die Texte zu lesen oder Lesen zu lernen, und trugen so erheblich zur Bildung ganzer Bevölkerungsgruppen bei.
Luthers Vorrede zum Neuen Testament ist in neuen Bibelausgaben nicht mehr enthalten. Lesen Sie, was Luther seinen Lesern 1545 mit auf den Weg gegeben hatte.