Die gantze Heilige Schrifft Deudsch
D. Martin Luther, Wittenberg 1545
Eine Bildbesprechung
Das selbe Bild wird noch dreimal in der Lutherbibel von 1545 verwendet. Es leitet die Korinther-Briefe, den Galater-Brief und die Briefe an Timotheus ein.
Dem Brief des Paulus an die Römer ist im ersten Kapitel ein Bild vorangestellt, das Paulus in seiner Schreibstube bei der Übergabe des Briefs an die Boten zeigt, die den Brief nach Rom bringen sollen.
Der Druckstock ist als Holzschnitt erstellt worden, der die Maße ca. 15 x 11 cm besitzt.
Wir zeigen hier das Bild aus der Ausgabe von 1545 im unkolorierten Schwarzdruck. Klicken Sie auf das Bild, um eine vergrößerte Ansicht zu erhalten.
Abbildung: »Der Apostel Paulus«
Titelbild zum Brief des Paulus an die Römer in Luthers Biblia 1545.
Der Holzschnitt zeigt ein Arbeitszimmer, das Luthers Schreibstube ähnlich sein könnte: Der Tisch liegt voller Schriftstücke und Bücher, an den Wänden befinden sich Zettelhalter, in denen etliche Manuskripte stecken. Der kleine Wandschrank rechts ist voll mit Büchern, Kladden und Schreibzeug.
Die Ausstattung zeigt aber auch ein wenig Komfort und liebe zum Detail: Die Tischplatte ist mit einer Tischdecke versehen. Die Sitzbank rechts am Schreibtisch ist mit Kissen ausgestattet und mit einem hohen Teppich an der Rückseite, der wohl auch vor der Kälte der Wände schützt. Die Fensterläden tragen Ornamente, der Blick aus dem Fenster ähnelt einer mitteleuropäischen Burgenlandschaft.
Die Fenster sind verglast, und zwar mit den damals üblichen Butzenscheiben aus grünem Waldglas, die mit Bleiruten zu Fensterflächen verbunden wurden.
Vor der Person, die am Schreibtisch sitzt, liegen am Boden zwei Schwerter. Sie sind ein Symbol und kennzeichnen damit für jeden Betrachter die Person, die am Tisch sitzt: Es ist Paulus!
Von den beiden Schwertern weist eins auf das Martyrium des Paulus hin. Es ist das »Schwert der Enthauptung«.
Das andere ist das »Schwert des Geistes,« das einerseits die Ritterlichkeit seines Glaubens bedeutet, und anderseits das Wort (die Predigt) als Waffe des Paulus im Kampf um Gerechtigkeit symbolisiert, wie es in Eph 6,17 beschrieben ist: Vnd nemet den Helm des heils / Vnd das Schwert des geiſtes / welches iſt das wort Gottes.
Zu erkennen sind weitere Attribute des Paulus: ein langes Gewand, der Bart, in der Hand ein Schriftstück, hier in der Form eines gefalteten und versiegelten Briefes. Es kann in diesem Fall nur der Brief gemeint sein, um den es hier geht: Der Brief an die Römer. Doch das geht aus dem Bild nicht hervor. Deshalb kann das selbe Bild weitere Paulus-Briefe einleiten.
Über Paulus ist ein strahlendes Licht in der Form eines Heiligenscheins zu sehen, der Nimbus.
Der Nimbus ist seit der Antike ein Symbol in der Kunst und seit der frühen Ikonographie auch in christlich motivierten Abbildungen zu finden. Als Ring oder Strahlenkranz umgibt er den Kopf einer Person oder schwebt in geringem Abstand darüber.
Der Nimbus ist in der christlichen Religion den Abbildungen von Jesus Christus, von Päpsten, von Engeln und von Heiligen vorbehalten.
Der Nimbus über der sitzenden Person kennzeichnet sie in diesem Fall als Heiligen.
Die beiden anderen Personen sind unklar. Es scheint sich um Boten zu handeln. Während der eine Bote offensichtlich Anweisungen von Paulus erhält und darauf wartet, den Brief ausgehändigt zu bekommen, sitzt der zweite Bote auf der Gästebank, ausgestattet für die Reise nach Rom mit Mantel und »Watsäcken«, in denen Getränke und Proviant für die Reise enthalten sind.
In der Lutherbibel von 1534 spielt diese Szene vor dem Haus. Der Bote, der Brief und Anweisungen empfängt ist dort eindeutig als Frau zu erkennen. In diesem Bild wurde Phöbe gezeigt, die den Brief nach Rom gebracht haben soll (siehe Rom 16,1 und den Nachsatz in der Ausgabe von 1545). Hier, in der Lutherbibel von 1545, ist die Frau einem männlichen Boten gewichen.
Der Sinn des Titelbildes ist es, den Autor und seine Absichten vorzustellen, ohne ein einziges Wort dem gedruckten Text hinzufügen zu müssen.
Noch bevor wir die ersten Worte des Paulusbriefes lesen, erfahren wir, wer dieser Paulus ist: Ein Heiliger, wie uns der Nimbus verrät, ein Apostel, dessen Waffe das Wort war und der für seinen Glauben hingerichtet wurde. Er war ein Mensch, der unermüdlich über das Evangelium predigte und selbst jene nicht vergaß, die weit entfernt von ihm auf ihn warteten. Es gab wichtige Botschaften, und Paulus formulierte sie in Briefen.
Das Bild ermöglicht es dem Leser, sich mit dem Empfänger zu identifizieren. Der Brief, den Paulus schrieb, liegt hier vor. Er kann jetzt gelesen werden. Er ist zwar an »die Römer« adressiert, also an die christliche Gemeinde im Rom der damaligen Zeit, doch damit auch an die Gemeinde, die zur Zeit Luthers in der Nachfolge der römischen Christen des 1. Jahrhunderts stehen: An die römische Kirche und ihre Gemeindemitglieder. Es ist ein Brief des Paulus an den christlichen Leser.
Die Bilder der Bibeln jener Zeit waren keineswegs nur schmückendes Beiwerk. Verstand man es, diese Bilder »zu lesen«, konnten daraus wieder die Geschichten entwickelt und nacherzählt werden. Dies war vor allem für jene Betrachter wichtig, die des Lesens unkundig waren oder visuelle Hilfen benötigten, um die durchaus schwierigen Texte der Bibel zu verstehen. Die Bilder waren ein wichtiger Anreiz dafür, die Texte zu lesen oder Lesen zu lernen, und trugen so erheblich zur Bildung ganzer Bevölkerungsgruppen bei.
Luther erläutert, warum er den Römerbrief für das bedeutendste Schriftstück des Neuen Testaments hält. Ein Christenmensch solle ihn auswendig können und sein Leben daran ausrichten.
Luthers Vorrede zum Neuen Testament ist in neuen Bibelausgaben nicht mehr enthalten. Lesen Sie, was Luther seinen Lesern 1545 mit auf den Weg gegeben hatte.