Die gantze Heilige Schrifft Deudsch
D. Martin Luther, Wittenberg 1545
Eine Betrachtung
Dem Evangelium nach Markus ist im ersten Kapitel ein Bild vorangestellt, das den Evangelisten Markus zeigen soll. Der Druckstock ist als Holzschnitt erstellt worden, der die Maße ca. 15 x 10,8 cm besitzt.
In der Lutherbibel von 1545 kam der selbe Holzschnitt zum Einsatz, der bereits in früheren Auflagen verwendet wurde, so auch in der ersten Gesamtausgabe von 1534.
In der Ausgabe von 1534 wurde der Druck nachträglich von Hand aufwendig koloriert. Dadurch treten die Feinheiten des detailreichen Bildes deutlich hervor. Gleichzeitig vermittelt das kolorierte Bild einen bemerkenswerten Eindruck der Räumlichkeiten, die dem Künstler als Vorlage für sein Motiv dienten. Es ist ein Blick in die Zeit Luthers.
Wir zeigen hier zum Vergleich beide Bilder aus dem Markusevangelium, Kapitel 1, den Schwarzdruck aus der Ausgabe von 1545, und den nachträglich kolorierten Druck aus der Ausgabe von 1534.
Klicken Sie auf das jeweilige Bild, um eine vergrößerte Ansicht zu erhalten
Abbildung: Titelbild zum Evangelium nach Markus in der Lutherbibel von 1545.
Abbildung: Titelbild zum Evangelium nach Markus in der Lutherbibel von 1534.
Zu sehen ist der Evangelist Markus, sitzend vor einem Buch, an dem er gerade schreibt, und das offensichtlich von Jesus Christus handelt.
Markus ist an mehreren Symbolen zu erkennen, die der Meister »MS« in das Bild eingebracht hatte: am Heiligenschein, am Löwen rechts im Bild und am aufgeschlagenen Buch vor ihm.
Der Nimbus, der »Heiligenschein«, ist seit der Antike ein Symbol in der Kunst und seit der frühen Ikonographie auch in christlich motivierten Abbildungen zu finden. Als Ring oder Strahlenkranz umgibt er den Kopf einer Person oder schwebt in geringem Abstand darüber.
Der Nimbus ist in der christlichen Religion den Abbildungen von Jesus Christus, von Päpsten, von Engeln und von Heiligen vorbehalten.
Der Nimbus über der sitzenden Person kennzeichnet sie in diesem Fall als Heiligen. Zu ihnen zählen auch die Evangelisten.
Zu sehen sind in diesem Bild ein weiterer Nimbus, weitaus strahlender und größer, der unter der Decke zu schweben scheint und so die gesamte Szene überragt. In ihm befindet sich eine Taube mit ausgebreiteten Flügeln, die ihrerseits wiederum einen eigenen Nimbus besitzt.
Auch über dem Kopf des Löwen im Vordergrund leuchtet ein Strahlenkranz. Dennoch: Die christliche Religion kennt keine heiligen Tiere. Wenn eines auftritt, ausgestattet mit dem Nimbus, dann ist es nur symbolisch zu interpretieren: Der Löwe ist das Symbol des Evangelisten Markus.
Im Vordergrund links ist das Evangelistensymbol des Markus gezeigt: der Löwe. Jeder gebildete Betrachter wusste sofort, warum sich in einer so gut eingerichteten Stube ausnahmsweise ein Löwe befindet. Um jedes Missverständnis auszuschließen, ließ der Künstler auch über dem Löwen den Nimbus leuchten. Damit ist die Verbindung zur Person am Tisch eindeutig hergestellt. Es ist Markus.
Der Löwe ist bereits seit dem 2. Jahrhundert ein Symbol für das Markusevangelium bzw. für Markus selbst.
Irenäus von Lyon (ca. 135 bis 200 n. Chr.) ordnete erstmals die vier Symbole, die in Offb 4,7 und Hes 1,10 genannt werden (Mensch, Löwe, Stier, Adler), den vier Evangelien zu. Im 4. Jahrhundert war es schließlich Hieronymus, der die Symbole der Evangelisten so bestimmte, wie wir sie auch in den Bildern der Lutherbibeln wiederfinden.
Der Künstler stützt sich bei der Symbolik in seiner Bildkomposition auf Hieronymus und eine lange Kirchentradition, die zu Luthers Zeit noch im Allgemeinwissen verankert war.
Diese Symbolik war bereits lange vor Luther gebräuchlich und wurde von seinen Lesern entweder auf Anhieb verstanden oder auf diese Weise, durch die bildliche Darstellung, in den Gemeinden, Haushalten und Schulen neu gelehrt und erlernt.
Die nebenstehende Abbildung zeigt die vier Evangelistensymbole vereint in einem Bild.
Abbildung: Die Evangelistensymbole auf dem Titelbild von Luthers Weihnachtspostille mit der Auslegung der Evangelien- und Epistelperikopen für die Zeit zwischen dem ersten Christtag und dem Sonntag nach Epiphanias.
.
Der Holzschnitt zeigt ganz oben den gekreuzigten Christus. In der Mitte des Bildes befinden sich die Apostel Petrus (links; mit dem Symbol Schlüssel) und Paulus (rechts; mit dem Symbol der zwei Schwerter). In den Ecken sind die vier Evangelistensymbole zu sehen: Stier, Adler Löwe und Mensch (Engel), kenntlich gemacht durch die Beschriftungen, aber auch durch Nimbusse und Flügel.
Unten in der Mitte befindet sich das sächsische Wappen. Darunter sind die Initialen »IG« des Druckers Johann Rhau-Grunenberg zu sehen, der das Werk 1522 in Wittenberg hergestellt hatte.
Credits:
Bearbeitung der Vorlage: Adaptiert für Stilkunst.de
Das komplexe Symbol der Taube mit den ausgebreiteten Flügeln steht für Gott und den Heiligen Geist. Im Markusevangelium, dort im Kapitel 1, Verse 9 bis 10, beschreibt Lukas ein Geschehen während der Taufe Jesu:
VND es begab ſich zu der ſelbigen zeit / das Jheſus aus Galilea von Nazareth kam / vnd lieſ ſich teuffen von Johanne im Jordan. 10Vnd als bald ſteig er aus dem waſſer / vnd ſahe / das ſich der Himel auffthat. Vnd den Geiſt / gleich wie ein Taube herab komen auff jn.
Die Taube in diesem Bild ist also das Symbol für den Heiligen Geist. Sie trägt einen eigenen Nimbus, um diesen symbolischen Ausdruck noch zu verstärken.
Doch die Taube fliegt innerhalb eines weitaus größeren Nimbus. Es ist der Nimbus der Göttlichkeit: Der Heilige Geist tritt hier stellvertretend für die Person Gottes auf. Er ist eine der Erscheinungsformen Gottes, wie sie in der Trinitätslehre beschrieben ist.
Die Taube schwebt über der gesamten Szene und breitet ihre Flügel über Markus und sein Tun aus. Wesentlich ist das Tun, das Schreiben des Evangeliums: Markus verfasst sein Evangelium unter der Gnade Gottes und unter der Obhut des Heiligen Geistes.
Das aufgeschlagene Buch wird gerade geschrieben. Neben dem Schreibpult, auf dem das Buch derzeit ruht, befinden sich griffbereit Schreibutensilien. Solche Schreibpulte mit schräg gestellter Arbeitsfläche waren üblich, um die Federführung zu erleichtern und um ein gleichmäßiges Schriftbild über die gesamte Seitenhöhe zu ermöglichen. Neben Tusche und Schreibfedern wurden Stifte und Lineale benötigt, um beispielsweise auf dem Papier Linien zu ziehen, damit einheitliche Abstände und ein klares Schriftbild möglich wurden.
Das aufgeschlagene Buch kann in diesem Zusammenhang nur als das Evangelium des Markus interpretiert werden.
Der Raum ist als Arbeitszimmer gestaltet. Auf dem Schreibtisch befindet sich ein Schreibpult. Griffelkasten, Lineal, Tintenfass und wohl ein Löschabroller runden die Schreibtischutensilien ab.
Der Schreibtisch selbst ist wie die umlaufende Sitzbank aus massiven Holz gefertigt. Einen besonderen Schreibtischstuhl sucht man vergebens. Kissen bieten den nötigen Sitzkomfort und in der kalten Jahreszeit Schutz vor der Kälte der Wände und des Holzes.
Die Wände sind kahl, nur vor dem Fenster befindet sich ein Vorhang.
Die Fenster sind verglast, und zwar mit den damals üblichen Butzenscheiben aus grünem Waldglas, die mit Bleiruten zu Fensterflächen verbunden wurden. Der Holzschnitt ist so detailreich gearbeitet, dass sogar in den runden Butzenscheiben jeweils die »Butze« selbst, die kleine, produktionsbedingte Erhöhung in der Mitte des Glases, sowie die durch das Drehen bei der Fertigung entstehenden kreisförmigen Strukturen zu erkennen sind.
Die beiden hinteren Fenster enthalten zentral jeweils eine rote Scheibe mit einem Motiv darin, das nur vage ausgeführt ist.
Dies alles weist auf eine gewisse »Herrschaftlichkeit« des Hauses hin. Denn man konnte sich die heiligen Evangelisten nicht anders vorstellen, als in einer Umgebung, die dem Lebensraum eines Königs gleich kam. Die Kleidung des abgebildeten Lukas unterstreicht diesen Eindruck noch, vom Mantel bis zu den Strümpfen und Schuhen.
Am linken Bildrand sind Nebenräume zu sehen. Es scheint sich um Treppenhaus zu handeln, über das man den Hauptraum betreten kann. Auf der Empore der Treppe, zwischen zwei Säulen, ist eine Person zu erkennen, bekleidet mit Hut und Mantel.
Erst in der kolorierten Fassung ist zu sehen, dass sich der Künstler Gewand und Hut in der Farbe Rot vorgestellt hatte. Es ist die Farbe weltlicher und geistlicher Herrscher, aber auch die Farbe edler Gewänder allgemein, wie es an der Kleidung des Markus deutlich wird.
Die Person schaut beobachtend auf die Szene, doch wer sie ist und was sie da will, kann nicht abschließend geklärt werden.
Sehr wahrscheinlicher ist es jedoch, dass diese Person die Mutter des Markus darstellt, die in Apostelgeschichte 12,12 genannt wird:
V ND als er ſich beſinnet / kam er fur das haus Maria der mutter Johannis / der mit dem zunamen Marcus hies / da viel bey einander waren vnd beteten.
Das Haus der Mutter des Markus, dessen jüdischer Name Johannes war, wird dort als beliebter Versammlungsort beschrieben. In der Szene des Bildes sehen wir keine Gäste, sehr wohl aber die Frau, der das Haus gehört, und die in mütterlicher Fürsorge das Tun ihres Sohnes beobachtet, so, wie Mütter eben sind. Dafür spricht, dass der unkolorierte Holzschnitt durchaus weibliche Gesichtszüge erkennen lässt. Das rote Gewand mit Hut gehört dann zu der eher typischen Kleidung einer wohlhabenden Frau.
Leider liegen uns derzeit keine weiteren Erkenntnisse vor, die über jede Spekulation hinaus Klarheit schaffen könnten.
Sinn der Titelbilder in den Evangelien war es, den jeweiligen Autor umfänglich vorzustellen, ohne ein einziges Wort dem gedruckten Text hinzufügen zu müssen.
Wie die übrigen Abbildungen in den Lutherbibeln jener Zeit ist auch dieses Bild vollgestopft mit Informationen, die im Wesentlichen über Symbolik transportiert werden. Die Bilder sind hochgradig verdichtete Informationsträger und keineswegs nur schmückendes Beiwerk.
Die Künstler, die diese Bilder entworfen hatten, waren Meister der Mediengestaltung. Sie nutzten kleinste Flächen, um ganze Geschichten zu erzählen. Sie schnitten mit einem Stecheisen aus einem kleinen Holzblock derart genau, dass die vielen Details auf dem Zielmedium im Druck trotz dicker Druckerschwärze und faseriger Papiere erkennbar blieben!
Verstand man es, diese Bilder »zu lesen«, konnten daraus wieder die Geschichten entwickelt und nacherzählt werden. Dies war vor allem für jene Betrachter wichtig, die des Lesens unkundig waren oder Hilfen benötigten, um die durchaus schwierigen Texte der Bibel zu verstehen. Die Bilder waren ein wichtiger Anreiz dafür, die Texte zu lesen oder Lesen zu lernen, und trugen so erheblich zur Bildung ganzer Bevölkerungsgruppen bei.
Luthers Vorrede zum Neuen Testament ist in neuen Bibelausgaben nicht mehr enthalten. Lesen Sie, was Luther seinen Lesern 1545 mit auf den Weg gegeben hatte.