Gedenktag in einzelnen Ländern der Bundesrepublik Deutschland
Tag des Erinnerns an die Befreiung vom Nationalsozialismus (1945)
Tag des Erinnerns an das Ende des 2. Weltkriegs in Europa (1945)
Gregor von Nazianz
(† 25. Januar 390 in Arianzos bei Nazianz in Kappadokien)
Der Tag der Befreiung in den Jahren 2026 bis 2033
Verweise führen zu den Kalenderblättern des jeweiligen Datums:
Der 8. Mai ist in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2026 gesetzlicher Gedenktag in den Bundesländern
Der 8. Mai 1945 war nach sechs Jahren Krieg der Tag, an dem die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Wehrmachtsteile (Marine, Heer, Luftwaffe) in Kraft trat und der 2. Weltkrieg in Europa beendete wurde.
Doch der 8. Mai wurde bis zum Jahr 2020 in keinem Bundesland Feiertag.
Aber spätestens seit der Rede des Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des 8. Mai, gilt dieser Tag auch in der Bundesrepublik Deutschland als »Tag der Befreiung« vom Nationalsozialismus.
Der damalige Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker betonte in dieser Rede, dass der 8. Mai vor allem ein »Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mußten,« sei: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.«
In seiner Rede führte Dr. Richard von Weizsäcker aus, wie umfangreich, und wie persönlich »Gedenken« mit Blick auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu verstehen sei.
Wir zitieren an dieser Stelle aus seiner Rede:
[...]
Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft.
Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden.
Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben.
Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.
Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mußten.
Wir gedenken der erschossenen Geiseln.
Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns besetzten Staaten.
Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten.
Wir gedenken derer, die nicht aktiv Widerstand leisteten, aber eher den Tod hinnahmen, als ihr Gewissen zu beugen.
Neben dem unübersehbar großen Heer der Toten erhebt sich ein Gebirge menschlichen Leids,
Leid um die Toten,
Leid durch Verwundung und Verkrüppelung,
Leid durch unmenschliche Zwangssterilisierung,
Leid in Bombennächten,
Leid durch Flucht und Vertreibung, durch Vergewaltigung und Plünderung, durch Zwangsarbeit, durch Unrecht und Folter, durch Hunger und Not,
Leid durch Angst vor Verhaftung und Tod,
Leid durch Verlust all dessen, woran man irrend geglaubt und wofür man gearbeitet hatte.
Heute erinnern wir uns dieses menschlichen Leids und gedenken seiner in Trauer.
[...]
Doch was haben wir heute, mehr als 70 Jahre nach Kriegsende damit noch zu tun? Was geht das uns an? Sind wir, die wir weder die Zeit des NS-Regimes noch den Krieg erlebt haben, am Versagen und an den Taten der Generationen vor uns schuld?
In seiner Rede stellt sich Dr. Richard von Weizsäcker auch der Frage nach der Verantwortung, die gewiss die Schuldigen, aber auch Unschuldige heute zu tragen haben:
[...]
Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.
[...]
Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.
[...]
Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.
[...]
Ja, Gedenktage und Feiertage sind Ankerpunkte im Kalender, die Zeit einräumen für das Erinnern, die verhindern, dass das Vergessen oder gar die Ignoranz grassieren.
Blickt man auf den 8. Mai als Gedenktag oder Feiertag, so findet sich dafür hinreichend Grund in Dr. von Weizsäckers Satz: »Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.«
Aus diesem Satz lässt sich im Umkehrschluss durchaus die Feststellung ableiten: Wer sich gegen den 8. Mai, gegen den 27. Januar, gegen den 9. November (usw.) als Gedenktage und Feiertage ausspricht, der will sich womöglich nicht erinnern.
Ja, sich nicht erinnern wollen, das ist eine große Gefahr! Wir erleben diese Haltung heute wieder zunehmend, und wir sind darüber tief erschüttert! Es scheint tatsächlich an der Zeit zu sein, die Erinnerung an die Unmenschlichkeit eines Systems durch offizielle Gedenktage im kollektiven Wissen unserer Gesellschaft fest zu verankern.
1) Die vollständige Rede findet sich im Archiv des Bundespräsidenten unter dem Titel »Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa « (© 2019 Bundespräsidialamt).
Wir haben aus der Rede ausnahmsweise ausführlicher und mit Quellenangabe zitiert, weil es uns nicht möglich erscheint, diese Abschnitte in einer knappen inhaltlichen Zusammenfassung gerecht zu werden. Dort, wo der 8. Mai als Gedenktag oder Feiertag begangen wird, benötigt er konkrete Inhalte. Sie sind zu formulieren. Dr. Richard von Weizsäcker hat mit seiner Rede dafür eine überzeugende Grundlage geschaffen, die weder verkürzt noch ausgeblendet werden kann. Es scheint uns daher grundlegend bedeutend, diese Rede in ihrer Gesamtheit zu lesen, wenn über den 8. Mai als Gedenktag oder Feiertag nachgedacht werden soll. Unsere Zitate dienen an dieser Stelle dazu, das Spektrum zu umreißen, mit dem sich Feiern zum 8. Mai beschäftigen müssen.
Abbildung: Was sagen diese Kinderaugen? Diese deutschen Kinder sind soeben mit einem Transport aus den polnisch besetzten Gebieten in einem kleinen Ort Westdeutschlands angekommen.
( 17.8.48 [Herausgabedatum], ADN-ZB-Illus)
Foto: Attribution: Bundesarchiv, Bild 183-2003-0703-500 / CC-BY-SA 3.0
adaptiert für www.stilkunst.de
Das nationalsozialistische Regime hatte massenweise Opfer gefordert. Gnadenlos wurde das Leben, und sehr oft die Kindheit und die Jugend vieler Menschen aufs Spiel gesetzt.
Unzählige Kinder und Jugendliche, die überlebten, trugen ihr Trauma der zerstörten Kindheit für den Rest ihres Lebens in sich und mit sich.
Für zahlreiche Opfer gab es keine Zukunft. Sie wurden barbarisch getötet oder sie starben an den Folgen der in voller Absicht herbeigeführten Entbehrungen und Qualen. Die Täter kamen trotz ihrer Verfolgung und der Gerichtsbarkeit nach dem Krieg in unglaublich vielen Fällen davon.
Die Befreiung von diesem menschenverachtenden System machte es möglich, diesen verängstigten Kindern das zu geben, was ihnen wie jedem anderen auch zusteht: eine friedliche Zukunft, in der die Gesellschaft für Geborgenheit steht, nicht für die Bedrohung von Freiheit und Frieden.
Es ist die Aufgabe der Gesellschaft – unsere Aufgabe! –, sich um die Zukunft und um die grundlegenden Rechte aller ihrer Angehörigen zu sorgen, und keineswegs um die Machtinteressen einzelner Personen, kleiner Gruppierungen oder Parteien.
Wir, die wir heute leben, sind die Nutznießer des 8. Mai 1945. Nie gab es auf deutschem Boden eine so lange Zeit des Friedens. Nie gab es für den Großteil der Bevölkerung so viel Wohlstand und Fürsorge. Nie gab es für den Einzeln so viel Freiraum, sich zu entwickeln.
Wir müssen dafür nicht dankbar sein. Wir sollten uns darüber vielmehr freuen und dieses große Glück genießen! Dies sollte hinreichend Antrieb dafür sein, es bewahren zu wollen und es weiter sicherstellen zu wollen. Doch wie?
Sicher: Unsere Gesellschaft ist nicht perfekt, und es liegen die großen Aufgaben vor ihr, Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit, Sicherheit, Fürsorge und Förderung für alle, die in ihr leben, weiter auszubauen.
Die Voraussetzung dafür sind Frieden, auch im Kleinen, Wertschätzung jedem Gegenüber, und Zusammenhalt ohne Vorurteile. Über alle gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Grenzen hinweg. Die destruktiven Strömungen, die uns bei der Bewältigung dieser Aufgaben entgegenschlagen, sind Ausgrenzung, Diskriminierung, Separatismus und Hetze gegen Minderheiten, Gruppierungen und Staaten.
Die Zeit des NS-Regimes ist ein furchtbares Beispiel dafür – aber kein Beispiel ohne Gleichen! –, wohin Diskriminierung, Separatismus und Volksverhetzung eine Gesellschaft führen. Leider muss heute, mehr als 70 Jahre nach Kriegsende, festgestellt werden, dass Deutschland, dass Europa, dass die Welt diese Wege wieder einschlägt. Sie werden gegründet auf den Gefühlsregungen Angst, Neid, und Machtgier.
O, ja: Angst, Neid und Machtgier sind menschlich. Sie sind tief in uns verwurzelt. Mensch sein, Homo sapiens sein, bedeutet aber, solche Gefühlsregungen kontrollieren zu können und, wo nötig, zum Wohl aller zu nutzen. Denn Angst, Neid und Machtgier sind nicht per se schlechte Gefühlsregungen. Sie haben Sinn. Doch sie kontrollieren, ist schwer! Verführer und politische Verblender nutzen einerseits Ängste und Neid, um ihre eigene Machtgier zu befriedigen, die sie, erfolgsgetrieben, weiter und weiter übersteigern. Ihr Interesse gilt der Selbstbefriedigung, nicht dem Interesse der Weiterentwicklung einer Gesellschaft, für die sie Verantwortung tragen.
Das riesige Problem dabei ist, dass Staatslenker so viel Macht an sich reißen können, dass sie jeden Reformversuch, jeden Widerstand im Keim ersticken können. Sie entwickeln beispielsweise Netze, um systematisch Denunziantentum zu etablieren. Denunzianten sind das heimtückische Werkzeug machtgieriger Politiker und Staatslenker. Andersdenke, Andershandelnde werden aus geringsten Anlässen heraus öffentlich gebrandmarkt, als politische Verräter verurteilt, womöglich des Hochverrats bezichtigt und mit schlimmsten Strafen belegt bis hin zur Tötung. Auch die Gefängnisse und Konzentrationslager des NS-Regimes sind nur ein schlimmes historisches Beispiel unter vielen dafür, längst kein Beispiel ohne Gleichen und kein Beispiel für überkommene Strukturen. Es ist gegenwärtig in vielen Ländern dieser Welt.
Wir können froh und glücklich sein, dass es bei uns nicht so ist, oder: noch nicht so weit gediehen ist. Denn für eine Gesellschaft ist dann der Weg verbaut, sich aus innen heraus, aus sich selbst heraus zu befreien. Und sie wird das scheinbare, das vom Regime propagierte Glück mit unzähligen Opfern und sehr viel Leid zu bezahlen haben.
So ist der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus ein Meilenstein in unserer Geschichte, der es dem Widerstand ermöglichte, neue Wege einzuschlagen, deren Nutznießer wir heute sind.
Unsere Aufgabe ist es, die Verantwortung dafür zu übernehmen, diesen Weg weiter zu gehen. Das meint auch, sich dort zu widersetzen, wo Gedanken, Worte und Taten uns ermuntern, überzeugen oder gar zwingen wollen, andere Wege einzuschlagen. Wo Verführer und Verblender unsere Ängste und unseren natürlich angelegten Neid derart befeuern, dass wir in blindem Gehorsam bereit sind, jedes und unzählige Opfer für ein scheinbares Wohlergehen zu akzeptieren. Dies beginnt nicht erst mit der Errichtung von Konzentrationslagern. Dies beginnt, wenn sich extremes Gedankengut in einer Gesellschaft etabliert.
In der Rückschau auf unsere Epoche werden wir daran gemessen werden, welche Wege wir eingeschlagen haben, um unsere Gesellschaft zu dem zu machen, was sie dann sein wird. Es liegt in unserer Hand.
Die Diskussion reißt nicht ab: Ist der 8. Mai ein Tag zum Feiern? Sollte der 8. Mai als Feiertag in den Feiertagsgesetzen der Länder Einzug finden? Oder sollte er gar als nationaler Feiertag der Bundesrepublik Deutschland gewürdigt werden?
Die Gefahren sind bekannt. Noch immer weht ein böser Geist durch Deutschland, und er bläht sich unüberhörbar auf: Könnte eine Feiertagsregelung gar das Gegenteil dessen bewirken, was ihre eigentliche, gute Absicht ist? Könnte sie Strömungen Auftrieb geben, die den 8. Mai 1945 nicht als »Tag der Befreiung«, sondern als Tag der Kapitulation und der Niederlage verstehen? Könnten Gruppierungen diesen Tag missbrauchen, um in politischen Veranstaltungen extremes nationales Gedankengut zu propagieren? Ja, sie könnten. Aber die populistischen Methoden der Massensuggestion extremer Gruppierungen und Parteien beschränken sich nicht auf den 8. Mai. Ihnen genügen schon weniger spektakuläre Ereignisse in der Geschichte. Die Gefahr besteht, aber sie allein ist kein Argument gegen die Überlegungen, was die heutige Gesellschaft aus dem 8. Mai macht.
Inzwischen ist das Land Berlin vorgeprescht. Berlin. Allein schon dem Ort kommt eine geradezu symbolische Bedeutung im Zusammenhang mit dem 8. Mai zu. Es war der Hauptsitz des NS-Regimes. Mit der Einnahme dieser Stadt gelang es den Alliierten, den Krieg in Europa zu beenden. Es ist die Stadt, die durch die Teilung am längsten die mittelbaren Folgen des Krieges zu erdulden hatte. Es ist seit der Wiedervereinigung Deutschlands die neue Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und seit dem Jahr 2000 wieder Regierungssitz. Nun aber für einen Staat, der aus der Befreiung und aus der Asche des 8. Mai 1945 hervorgegangen ist: Der 8. Mai 1945 schuf den Acker, auf dem die Bundesrepublik Deutschland am 24. Mai 1949 keimen und seit dem wachsen konnte. Auf dem Frieden in Europa wuchs, und auf dem die Europäer gemeinsam wachsen. Und zwar in Berlin.
Anlässlich des 75. Jahrestages im Jahr 2020 erscheint der »Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus« unter diesem Titel einmalig als gesetzlicher Feiertag im Feiertagskalender des Landes Berlin.
Ganz sicher sind die Argumente gut abgewägt worden, bevor dieser Beschluss gefasst wurde. Doch was bedeutet er? Wie kann dieser Tag zum Feiertag werden?
Ein Tag trägt hauptsächlich zwei Merkmale, wenn er ein Feiertag sein soll. Erstens ist er allgemein arbeitsfrei (wenn auch die Zahl der Ausnahmen, an Sonn- und Feiertagen Arbeit zu erlauben, zunimmt). Dies hat den Grund, dass der Großteil der Bevölkerung übergeordneten, wichtigen Sitten und Gebräuchen folgen kann (Beispiel: religiös begründete Feiertage) oder Zeit findet, an Veranstaltungen teilzunehmen, die diesen Tag inhaltlich prägen (Beispiel: 1. Mai).
Zweitens kommt der Aspekt des Feierns zum Tragen. Dabei geht es nicht darum, fröhlich und ausgelassen Party zu machen. Zwar kann Fröhlichkeit und Freude ein Teil der Feier sein (Beispiele: Weihnachten, Ostern), doch auch Trauer und Demut sind es (Beispiele: Karfreitag, Buß- und Bettag).
In Summe: Es geht keineswegs um freudiges Feiern, sondern um »Feierlichkeit«, um die Ernsthaftigkeit, mit der ein Anlass gewürdigt wird. Dies kann unterschiedliche Ausdrucksweisen finden, beispielsweise durch rituelle Handlungen (»Fronleichnamsprozessionen«), etablierte Vorgehensweisen (»Maikundgebungen«) oder in entsprechend ausgekleideten Veranstaltungen (Feiern zum Tag der Wiedervereinigung Deutschlands).
Doch für diesen Tag, zu diesem Anlass gibt es keine tradierten Sitten, Gebräuche oder reguläre Übungen in Gesellschaft und Bevölkerung (sieht man einmal von wenigen politischen Reden ab, die zu bestimmten Jahrestagen gehalten wurden). Dies muss sich erst noch entwickeln, dies muss wachsen.
Es ist kein Tag der Freude, wenn auch Fotos und Filme aus der Zeit des Kriegsendes jubelnde Menschen an Straßenrändern in Deutschland zeigen, die freudig Soldaten der alliierten Streitkräfte begrüßen. Dieser Teil der Freude war von etlichen Personen sicherlich tief empfunden und wir möchten sie niemandem abstreiten oder gar nehmen. Auch heute nicht. Doch der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus ist im Kern ein Tag, der uns vor allem die Schuld der deutschen Bevölkerung der damaligen Zeit vor Augen führt. Im Titel dieses Tages wird dieser Aspekt nicht gewürdigt.
In der deutschen Bevölkerung gab es während der Herrschaft des NS-Regimes sehr viele Opfer aus unterschiedlichsten Kreisen. Genannt wird an erster Stelle immer (und zwar mit Recht!) die jüdische Bevölkerung. Doch auch Zeugen Jehovas, politische Autoren, homosexuelle Menschen, geistig behinderte Menschen, Kommunisten, schwarze Deutsche (Stichworte: »Kolonialmigranten«, »Rheinlandkinder«), Sinti und Roma zählten zu den systematisch verfolgten Gruppen. Daneben erfuhren katholische Priester und evangelische Pfarrer, die christliche Werte über die Ideologien des NS-Regimes stellten, Beobachtung und Verfolgung. Viele starben schließlich in Konzentrationslagern oder Gefängnissen.
Wohl wahr: In der Bevölkerung gab es nur relativ wenige vorsätzliche Täter, die aber die volle Rückendeckung durch das NS-Regime besaßen. Es gab etliche Handlanger und viele Mittäter, die Antrieb und Rückenwind durch die Täter erfuhren. Sehr viele Mitwissende und Nutznießer waren darunter. Es gab aber auch unzählige Schweigende.
Ebenso wahr: Es gab ganz sicher viele Andersdenke. Es gab etliche, die Widerstand boten und leisteten. Doch die Macht der Populisten, Verführer und Verblender wuchs. Sie gingen voran (nationalsozialistische Propaganda: »Führer befiehl, wir folgen Dir!«1), und sie führten Deutschland in eine ideologische Einbahnstraße, aus der heraus es keinen Ausweg mehr gab. Zu viele Schweigende, zu viele Mitläufer, durchsetzt von Geheimpolizei und Denunzianten, blockierten den Weg zurück und drückten die Massen weiter und weiter nach vorn.
Die »Befreiung«, die vollständige Zerschlagung des NS-Regimes durch die alliierten Mächte, war für Deutschland schließlich der einzige Weg raus aus der Einbahnstraße. Die Weichen für eine neue, demokratisch orientierte Gesellschaft konnten gestellt werden.
Die Kosten dafür waren extrem hoch. Wiederum verursacht und hochgetrieben vom NS-Regime, das letztendlich, im Angesicht der Niederlage noch immer von den Soldaten und von der Bevölkerung widerspruchslosen Gehorsam verlangte, ja sogar die Treue bis in den Tod2.
So wurden beispielsweise militärische Stellungen noch in aussichtsloser Lage gehalten und Rückzüge viel zu spät betrieben, was für die örtliche Bevölkerung regelmäßig zum Desaster wurde. So wurden in den letzten Monaten auf verlorenem Terrain Kindersoldaten in einen Kampf geschickt, der längst verloren war, nur um mit ihren Leibern das Schicksal der Heeresführer um wenige Wochen oder Tage hinauszuzögern. Es ging nicht mehr um Kriegsführung oder um überlegte Kampfhandlungen, die eine Wende hätten bringen können. Es waren faktisch Selbstmordkommandos, es war in der Rückschau betrachtet systematisch geplanter Mord an unzähligen Schülern und Jugendlichen. Denn die Aussichtslosigkeit war der Heeresleitung längst bewusst. Im Rückzug von der Front wurden noch zahllose Menschen in Gefängnissen, Kriegsgefangenlagern und Konzentrationslagern eiligst getötet. Sinnlos, aber vollzogen im letzten Aufbäumen der Macht eines untergehenden Regimes.
Millionen Menschen haben im 2. Weltkrieg durch kriegerische Handlungen ihr Leben verloren. Millionen Menschen trauerten um Angehörige. Millionenfach hat das NS-Regime kleine heile Welten komplett zerstört und damit ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Angehörigen radikal verändert. Und das ist der entscheidende Punkt: Das NS-Regime hat Zukunft und ihre Grundlagen zerstört, millionenfach, nicht geschaffen, nicht gefördert! Es hat sich über die fundamentalen Interessen einer funktionierenden Gesellschaft rücksichtslos hinweggesetzt und das Wohl der gesamten Gesellschaft aufs Spiel gesetzt. Und genau das war schon früh erkennbar, lange bevor der erste Schuss dem 2. Weltkrieg Tür und Tor öffnete.
Ist also der 8. Mai ein Tag der Freude? Es ist ein Tag der Beschämung: Die deutsche Gesellschaft, einschließlich ihrer Politiker, Wissenschaftler, Denker und Wirtschaftslenker, hatte es nicht geschafft, den sich schon früh abzeichnenden Weg in die Einbahnstraße, den die Nationalsozialisten einschlugen, zu verlassen. Sie hatte es nicht geschafft, sich zu widersetzen und neue Wege zu finden. Wege, die zu Demokratie und zu einer Gesellschaft führen, für die das Wohl aller Angehörigen im Sinne der Menschenrechte eine unumstößliche Maxime ist.
Selbstverständlich: Es ist immer leicht, in der Rückschau zu urteilen. Und ja: Wir wissen um die historischen Umstände, die es der NSDAP leicht machte, das politische Heft in die Hand zu nehmen und die Macht an sich reißen. Wir wissen um die Euphorie, die Deutschland nach der Machtübernahme 1933 nach schrecklichen Jahren in der Weimarer Republik erfasste. Wir wissen auch vom Tempo, das die NSDAP an den Tag legte, um ihre Ideologien und politischen Programme stets unglaublich schnell in Handeln zu transformieren. Dies alles können Gründe für den frühen Erfolg des NS-Regimes gewesen sein. Es kann aber nicht als Ausrede gelten.
Daher dürfen wir, die wir erst nach dem 2. Weltkrieg geboren wurden und eine bis heute friedliche Zeit in der Bundesrepublik Deutschland erleben durften, uns darüber freuen, dass mit dem 8. Mai 1945 ein unglaublich menschenverachtendes und brutales Regime in Deutschland sein Ende gefunden hatte. Wir wären sonst womöglich Teil des Ganzen geworden – und zwar entweder als Täter oder als Opfer, ggf. als Schweigende.
Hätten wir uns gegen eine Mittäterschaft gewehrt? Hätten wir es abgelehnt, Nutzen daraus ziehen, wenn es möglich gewesen wäre? Hätten wir als Opfer Freunde und Unterstützer gefunden? Hätten wir nicht geschwiegen?
Denn es muss auch klar sein: Das NS-Regime fand sein stabiles Fundament in der enormen Masse der Schweigenden. So ist es ein Tag der Demut und der Trauer. Trauer, nicht nur um die physischen Opfer, sondern um uns selbst. Ein solcher Tag führt uns unsere eigenen Schwächen vor Augen.
Die Ereignisse jener Zeit belegen, dass wir auch heute noch jederzeit Opfer von Agitatoren, Populisten und Verblendern werden können – und das, obwohl wir aus der Geschichte lernen können. Wir können verführt werden, obwohl wir selbstverständlich hohen Werten nachfolgen, wie dem Recht zu leben, wie der Menschenwürde, wie Freiheit, wie Frieden, wie Gleichberechtigung usw. Denn das sind die Werte, die wir bereit sind, jederzeit für uns selbst zu proklamieren. Und für andere?
Die Ereignisse belegen zudem, wie schnell wir ohnmächtig werden können, dazu verdammt, zu schweigen, unter Gruppenzwängen, unter gesellschaftlichen Druck oder aus Furcht vor Nachteilen bis hin zur Angst vor psychischer und physischer Bedrohung.
Welchen Sinn kann also der 8. Mai haben, wenn er als Gedenktag oder Feiertag begangen wird? Ein wesentlicher Aspekt könnte sein: Trauer zu tragen und Demut zu üben über und vor den Machtlosen und Ohnmächtigen jener Zeit; verbunden mit der Hoffnung, dass uns, die wir in besseren Zeiten leben dürfen, dieses Gefühl der Ohnmacht, die Last der Machtlosigkeit und erst recht die Last einer Täterschaft oder einer Mittäterschaft, oder gar die Opferrolle erspart bleibt.
Gedenken, feierliches Gedenken, muss in Handeln münden. Wie wir handeln, ob wir etwas tun oder lassen, ob wir es gut oder schlecht machen: Urteilen darüber werden unsere Kinder und Kindeskinder in der Rückschau auf unser Leben und auf den Staat, den wir als Gesellschaft heute prägen. Sie werden keine Ausreden zulassen.
Mag der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus dazu beitragen, dass wir uns unserer Verantwortung für die Zukunft bewusst werden.
Ein Gutes hat dieser Tag in jedem Fall: Er unterbricht das Schweigen!
1) Manche Historiker nehmen an, dass diese Parole, die speziell durch das von Goebels überarbeitete »Russlandlied« starke Verbreitung fand, verinnerlicht von Teilen Nazi-getreuer Untertanen, ein Grund (unter mehreren) sein könnte für die hohe Zahl an Selbstmorden unter der deutschen Bevölkerung in den ersten Monaten nach Kriegsende. Der Selbstmord Adolf Hitlers und weiterer Führungspersönlichkeiten aus Heer und Regierung wurde etlichen zum Beispiel für Treue bis in den Tod gegenüber Reich und nationalsozialistischem Vaterland.
2) So lautete der Eid der SS-Männer: »Wir schwören Dir, Adolf Hitler […] Treue und Tapferkeit. Wir geloben Dir und den von Dir bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod […]« (zitiert nach: Wikipedia, Artikel: Kriegsverrat im Nationalsozialismus).
De facto wurde dadurch jede Kritik, auch die des Gewissens auf Grundlage von Ethik, Moral, Menschenrechten und christlichem Glauben, untersagt. Im Umkehrschluss erlaubte ein Verstoß, ein Bruch des Eides, schärfste Maßnahmen gegen Betroffene. Der Eidbruch wurde als Kriegsverrat eingestuft. Doch auch einfache Bürger konnten aufgrund des Treuebruchs gegenüber Reich und Führer als Kriegsverräter verurteilt werden, wenn sie beispielsweise dem politischen Widerstand angehörten, widerständige politische Gesinnung vertraten oder ihnen Solidarität mit verfolgten Juden unterstellt oder nachgewiesen werden konnte. Die Volksgerichtshöfe urteilten hart und schnell. Die Scharfrichter des NS-Regimes töteten Tausende Menschen aufgrund des Verrats, aufgrund des Treuebruchs, aufgrund der Gehorsamsverweigerung, aufgrund der Kritik am System. Weit mehr wurden in Konzentrationslager verbannt und starben dort unter den Haftbedingungen oder an Folter.
Der Artikel informiert über den 27. Januar, der seit 1996 ein nationaler Gedenktag der Bundesrepublik Deutschland ist.
Der Artikel thematisiert: Es geht um Schuld und Schuldbekenntnisse, vor allem aber darum, nicht wieder schuldig zu werden.
Die Gewalt ist so alt wie die Menschheit. Bereits im ersten Mordfall der (biblischen) Geschichte stellt sich die Frage: Wo bleibt Gottes Schutz?
Gedanken über Gottes Schutz in diesem Artikel.