Gestern eilte diese Meldung durch die Presse und durch die Medien: Die Rente mit 63 wird für die Rentenkasse sehr viel teurer als vorausgesehen! Es liegen weit mehr Rentenanträge vor, als es Vorhersagen und Hochrechnungen vermuten ließen.
Wer hätte das gedacht? Da ermöglicht es das neue Rentenpaket Arbeitnehmern, die 45 Jahre lang in die Rentenkasse eingezahlt haben, bereits mit 63 Jahren ohne Abschläge in die Rente zu gehen, und die so Begünstigten nutzen das aus! Sie stellen tatsächlich Rentenanträge!
Längere Lebensarbeitszeit
Die Überraschung begründet sich darin: Das passt irgendwie gar nicht zu den Hauptargumenten für die Rente mit 67. Das passt nicht zu den Studien und Untersuchungen, die zu den Ergebnissen kommen, dass immer mehr Menschen weit über das gesetzlich angedachte Rentenalter hinaus arbeiten wollen.
Das 63er-Paket war als Ergänzung gedacht, als Option und als Entgegenkommen für die wenigen, die sich über Jahrzehnte den Buckel krumm geschafft haben. Für die, die wirklich nicht mehr können, oder nicht mehr mithalten können, selbst wenn sie wollten. Für die, die nicht krank genug sind, um eine Erwerbsunfähigkeitsrente (EU-Rente) zu beziehen.
Gezeichnet hatte man damals in den Diskussionen musterhaft immer wieder das Bild des Dachdeckers, der mit 67 in schwindelerregenden Höhen mit lädierter Wirbelsäule und mit schweren Betonziegeln in den Händen auf Dachbalken balanciert. Verständlich, wenn der nicht mehr mag! Zumal ihm wohl tagein, tagaus junge, fitte Kollegen seine Grenzen aufzeigen.
Gedacht war an langjährig Versicherte, die sich in Knochenjobs aufgerieben haben. So viele werden es ja wohl nicht sein, dachte man wohl. So viele Dachdecker gibt es ja nun auch nicht. – Oder doch? Und selbst wenn: Die meisten wollen doch gar nicht in Rente gehen. Sie fühlen sich fit und und brauchen den Job als persönliche Erfüllung. – Oder doch nicht? Da sollte man mal drüber nachdenken.
Länger arbeiten war schon seit 1992 möglich
Erklärt wurde uns: Was die Masse der Arbeitnehmer vordergründig wolle und bräuchte, sei neben der längeren Lebensarbeitszeit so etwas wie ein »Smart Retirement Program«, ein sanftes Übergleiten von der Vollbeschäftigung in die Vollrente, das an Job-spezifische Bedingungen angepasst werden kann.
Doch das gibt es in Form der Modelle Zwei-Drittel-Teilrente, Ein-halb-Teilrente, Ein-Drittel-Teilrente. Und wer tatsächlich länger arbeiten will, darf das. Er wird sogar mit einer dauerhaften Erhöhung seiner Rentenbezüge belohnt, und zwar für jeden Monat, den er länger arbeitet, mit 0,5% zusätzlich. Wer also ein Jahr länger arbeitet, erhöht seine Rente dauerhaft um 6%. Und das war schon vor der Erhöhung des Rentenalters so.
Was fehlt, sind die Altersteilzeitmodelle, wie es sie früher gab. Auch da könnte man mal drüber nachdenken. Sie wurden rege genutzt, denn sie brachten eine Win-win-Situation sowohl für Arbeitnehmer wie auch für Arbeitgeber. Da können herkömmliche Teilzeitmodelle nicht mithalten, weil sie insbesondere für Arbeitgeber in der Umsetzung oft zu teuer und deshalb uninteressant sind. Neben hohen Kosten erfordern sie ein Höchstmaß an Arbeitsorganisation, um die nötige Flexibilität und Verfügbarkeit in Produktionen und Projekten zu gewährleisten.
Wenn die Studien Recht haben: Hätte es dann anstelle der sofortigen Anhebung des Rentenalters um zwei Jahre vorerst nicht genügt, mehr Marketing für bestehende Optionen zu machen?
Man hätte beispielsweise Arbeitgeber anhalten können, im Rahmen eines betrieblichen Rentenplanungsgesprächs in Zusammenarbeit mit dem Versicherungsträger die Arbeitnehmer zu informieren. Man hätte im Rahmen solcher Einzelgespräche aktiv die längere Arbeitszeit immer dann anbieten können, wenn es sinnvoll erscheint. So hätte man vielleicht dem demographischen Wandel in der weiteren Entwicklung der Renten- und Sozialgesetze ein praxisnahes und erprobtes Fundament gegeben. Für Studien hätten massenhaft fundierte Daten über Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverhalten bereitgestanden. Kein schlechter Gedanke, oder? Vor allem: Das könnte man noch immer tun.
Umgekehrt: Wer etwas früher in Rente gehen möchte, kann das seit 1992 auch schon längst, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, allerdings mit Abschlägen: 0,3 Prozent Abschlag für jeden Monat, den man früher gehen möchte, wobei das frühestens mit 63 Jahren möglich ist. Kann jeder! Dieser Weg wird aber offensichtlich relativ selten gewählt. Wir sind uns ziemlich sicher: Jetzt, nach dem 63er-Angebot, noch seltener! Jedoch: Als Beweis dafür, dass die Arbeitnehmer gar nicht früher in den Ruhestand möchten, ist diese Feststellung sicher völlig ungeeignet.
Die Rente mit 63 boomt
Doch, o Wunder! Kaum reicht man den Menschen mit dem 63er-Rente-ohne-Abschlag-Paket den kleinen Finger, packen sie zu! Und zwar kräftig! War das nicht vorhersehbar, – wirklich nicht? Wer jahrzehntelang Dachziegel zugeworfen bekommen hatte, hat es gelernt, fest zuzupacken, und zwar zum genau richtigen Zeitpunkt!
Die Rente mit 63 boomt! Woran liegt das nun genau? Wieso findet sie eine solche Akzeptanz?
Auch wir haben darauf keine eindeutige Antwort. Dafür fehlen die Daten.
Fakt ist: Die Antragsteller blicken auf mindestens 45 Jahre Erfahrungen in der echten Berufswelt zurück, und zwar in ihrer sehr eigenen Berufswelt. Da haben sie ganz sicher schon einiges erlebt. Sie beurteilen ihre individuelle finanzielle und gesundheitliche Situation und sie schauen auf ihre konkreten Perspektiven im Job und auf dem Arbeitsmarkt. Ganz ohne Schönreden. Ausgerichtet an ihrer eigenen Lebenswirklichkeit. Sie treffen Entscheidungen. Jede dieser Entscheidungen, nach vielen Überlegungen und nach Abwägung aller Vor- und Nachteile, meint: »Das ist das derzeit Beste für mich!« Das muss man respektieren.
Abstimmung der Rentenantragssteller
Die Flut der Rentenanträge kann ganz sicher so verstanden werden: Es ist eine Volksabstimmung, eine Abstimmung der zur Befragung zugelassenen Bevölkerungsgruppe über die aktuelle Rentenpolitik.
Ist es wirklich das, was die Arbeitnehmer wünschen: Eine längere Lebensarbeitszeit? Stellt man ganz nüchtern die Erwartungshaltung der Politiker, der wissenschaftlichen Berater und der Rentenkasse einerseits und die Ergebnisse in Form der Anträge andererseits gegenüber, heißt die Antwort unwiderlegbar: nein.
Und diese Abstimmung findet nun laufend statt. Die Hochrechnungen wurden bereits aktualisiert. Das ist wichtig, um die Kosten im Griff zu behalten. Doch welche Auswirkungen wird das auf der politischen Ebene haben? Wir werden sehen. Das Arbeitsministerium wird nun sicher regelmäßig über den weiteren Verlauf dieser Abstimmung informieren müssen.
Fakt ist: Es ist gleichzeitig eine Abstimmung über die Arbeits- und Sozialpolitik im Allgemeinen und über die Zustände im Job, im Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft. Themen wie Gesundheit, Altersabsicherung, Vermeidung von Altersarmut, Leistungsvermögen und Arbeitsplatzabsicherung, Hartz-IV usw. schwingen im Hintergrund dieser Entscheidungen signifikant mit. Und zwar bei denen, die es unmittelbar angeht und betrifft. Das sollte nicht verkannt werden.
Es ist das Votum derer, die betroffen sind, denen aber in der ganzen Diskussion und in der Vorbereitung der Gesetze vermutlich viel zu wenig Gehör geschenkt wurde.
Nimm es oder lass es!
Klar: Diese Abstimmung bietet faktisch nur die Alternative »Nimm es oder lass es!« Sie begründet nicht, welche Argumente dazu führen und wo die Belange, Nöte und Ängste dieser Menschen angesiedelt sind, die sicherlich in andere politische Konstrukte einfließen müssten.
Die Grundlagen der Entscheidung dafür oder dagegen kennt man nicht. Jedenfalls nicht genau genug. Die Studien scheinen sie nicht ausreichend zu reflektieren. Sie konnten den Ansturm auf dieses Angebot nicht annähernd prognostizieren.
Wir meinen: Die Antragsflut spiegelt wichtige Aspekte der wahren Situation in Deutschland. Man täte nun gut daran, dieses Spiegelbild ernst zu nehmen, zu hinterfragen und zu analysieren. Es mit flüchtigen Anmerkungen im politischen Tagesgeschäft unter den Teppich zu kehren, wäre jedenfalls der falsche Ansatz, und es wäre eine vertane Chance auf dem Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit und zu einer gesellschaftlich adäquaten Rentenpolitik.
Sozialpakete statt Rentenpakete
Womöglich ist es an der Zeit, sich von den Ideen der »Rentenpakete« zu lösen und sie politisch zu »Sozialpaketen« zu entwickeln, die viel stärker als bisher die Themen Gesundheit, Bildung, Altersvorsorge, Altersabsicherung, Arbeit, Arbeitslosigkeit. Lebensleistung, Schwerbehindertenrecht, Sozialhilfe und Pflege miteinander verzahnen.
Wie sinnvoll ist es beispielsweise heute noch, an Beitragsbemessungsgrenzen festzuhalten, wenn die Schere zwischen Niedriglohnempfängern und hoch entlohnten Angestellten immer weiter aufgeht und einen tiefen Graben zwischen Unterschicht und Mittelschicht wie eine klaffende Wunde in der Solidargemeinschaft eröffnet?
Spätestens mit dem ersten Rentenbescheid werden viele bis dahin gut verdienende Angestellte feststellen müssen, dass weder die Beitragsbemessungsgrenze noch die jetzige Beitragssenkung um ganze 0,2% (also 0,1% im Portmonee des Arbeitnehmers) gute Deals waren. Spätestens dann werden sie die Solidargemeinschaft im Allgemeinen und das Rentensystem im Besonderen ernsthaft hinterfragen. Fakt ist: Man könnte es auch schon vorher tun.
Viele tun es und haben längst die Initiative ergriffen. Sie finanzieren teure, private Kranken- und Altersabsicherungen, die jedoch komplett an der gesetzlich umsorgten Solidargemeinschaft vorbei gehen. Sie demonstrieren damit: Sie haben das Problem erkannt und sie sind bereit mehr zu zahlen. Viel, viel mehr. Sie tun es auf privaten Wegen, weil der Gesetzgeber für sie keine passenden Angebote anbietet. Bedauerlich ist es, wenn die Politik vor diesen zunehmenden Strömungen in unserer Gesellschaft die Augen verschließt und somit viele wichtige Aspekte gar nicht in die Betrachtung der aktuellen Sozial- und Rentenpolitik einfließen können.
Ungebrochen: Bekenntnis zur Rente mit 67
Während also die Rente mit 63 boomt und dafür die geburtenstarken Jahrgänge, die »Babyboomer«, sich schon hinten angestellt haben und mehr oder weniger geduldig auf ihre Stunde der Antragstellung warten, während gleichzeitig immer mehr Menschen schwer erkranken, Erwerbsunfähigkeitsrenten erhalten und damit vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden, bekennt sich unsere Arbeitsministerin ganz aktuell zur Rente mit 67. Die Begründung sei: Immer mehr Menschen arbeiten über das 60. Lebensjahr hinaus.
Ach, wer hätte das gedacht? Wenn das Renteneintrittsalter auf 67 steht, ist das doch kaum verwunderlich, oder haben wir da etwas falsch verstanden? Die Begründung hätte tatsächlich Gehalt, wenn die Altersrente auf 60 stünde. Tut sie aber nicht.
Der Anteil der Arbeitnehmer, die älter als 65 sind und noch arbeiten, wird in Zukunft gegenüber früher ganz sicher exorbitant zunehmen! Es wäre höchst verwunderlich, wenn das nicht so käme. Dann allerdings davon auszugehen, die Arbeitnehmer wünschten das so, müsste sehr kritisch hinterfragt werden.
Uns würde vielmehr interessieren: Wie viele Arbeitnehmer arbeiten über das gesetzliche Rentenalter freiwillig und eindeutig ohne Not hinaus? Wie steht diese Zahl im Verhältnis zu denen, die vorzeitig in Rente gehen? Und welche Trends sind erkennbar?
Mit 60 in Rente?
Über das 60. Lebensjahr hinaus arbeiten, ist das normal Ziel. Mit 60 in Rente gehen ist anders als früher nicht mehr ohne EU-Rente möglich, oder doch?
Selbst Schwerbehinderte haben (anders als früher) nicht mehr die Möglichkeit, ohne Erwerbsunfähigkeit (EU-Rente) vorzeitig (aber unter Inkaufnahme der Abschläge) mit 60 in den Altersruhestand zu gehen. Schwerbehinderte können abschlagsfrei zwei Jahre früher in Rente gehen. Ab dem Jahrgang 1964, der ja bis 67 arbeiten muss, also mit dem 65. Lebensjahr.
Es ist daher anzunehmen, dass auch viele Schwerbehinderte, die 63er-abschlagsfrei-Lösung vorziehen werden, sofern sie die Voraussetzungen erfüllen. Dann aber darauf zu schließen, dass Schwerbehinderte eine längere Lebensarbeitszeit vorziehen, oder der Anteil schwerbehinderter Rentner schrumpft, weil die Zahl der Anträge auf vorzeitige bzw. altersgerechte Rente wegen Schwerbehinderung abnimmt, wäre selbstverständlich unsinnig.
Doch warten wir es ab. Die betroffenen Jahrgänge sind noch nicht so weit. Sie kommen erst ab nächstem Jahr peu à peu zur Wahlurne, wie viele andere auch, deren 63. Geburtstag in greifbare Nähe rückt.
Und die Zukunft?
Werden wir, was Rentner betrifft, eine Drei-Klassen-Gesellschaft werden? Entweder Rente mit 63 oder mit 67. Kommt darauf an, ob man es geschafft hat, vor dem 63. Lebensjahr die nötigen 45 Beitragsjahre vollzukriegen, oder nicht. Dazu die Gruppe der EU-Rentner. Diese Gruppe wächst leider. Alles andere werden womöglich Sonderfälle sein, die an der Gesamtzahl der Rentner nur noch marginal Anteil haben werden.
Auch, wenn wir uns das anders wünschen würden: Zu den eher kleinen Gruppen zählen womöglich auch die, die noch über das Rentenalter hinaus freiwillig arbeiten werden, ohne die Not zu haben, neben der Rente ihren Lebensunterhalt durch einen Hinzuverdienst absichern zu müssen. Denn leider wächst auch die Gruppe derer, die vom Hinzuverdienst komplett abhängig sind oder ihn brauchen, um den sozialen Abstieg ins Bodenlose zu verhindern.
Bereits heute müssen viele, ehemals gut verdienende Angestellte, die keine private Absicherung vorgenommen haben, im Rentenalter hinzuverdienen, wenn sie ihren gewohnten Lebensstandard auch nur annähernd halten möchten. Oder sie verschieben den Renteneintritt nach hinten, was einerseits auch das Problem hinausschiebt und anderseits die Rente leicht erhöht. Ob sie diese Not jemals öffentlich zugeben, ist eine andere Frage.
Ob das so kommen wird? Zumindest ist es dieses Bild, entgegen allen Prognosen, die uns die jetzige Antragsflut auf Rente mit 63 zeichnet.
Es kann auch ganz anders kommen. Wir sind sehr gespannt, wie es weitergeht.