Tag des Erinnerns an furchtbaren Auswüchse eines menschenverachtenden Regimes
Emil Frommel
(† 9. November 1896 in Plön)
Der Gedenktag in den Jahren 2024 bis 2031
Verweise führen zu den Kalenderblättern des jeweiligen Datums:
Der 9. November ist als Tag der Erinnerung an die Novemberpogrome seit 1978 ein festes Datum im Kalender der Bundesrepublik Deutschland (DE). Allerdings ist er bis heute nicht als gesetzlich bestimmter nationaler Gedenktag etabliert. Dazu wurde 1996 stattdessen der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus (27. Januar) bestimmt.
Der Tag der Erinnerung an die Novemberpogrome soll die Erinnerung an die schrecklichen Vorkommnisse in der Nacht vom 9. November auf den 10. November 1938 wach halten. In dieser Nacht, auch Reichskristallnacht oder Reichspogromnacht genannt, fanden umfassend vom NS-Regime organisierte Gewaltverbrechen gegen Juden in Deutschland und Österreich statt.
KZ Auschwitz, Todeszaun
Credit: Foto: hansmarechal / pixabay
Lizenz: Public Domain (CC0)
Über 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausende jüdischer Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Es kamen viele Hundert Menschen dabei direkt und unmittelbar ums Leben.
Die Pogromnacht leitete zugleich die Massenvernichtung der Juden ein. Schon am nächsten Tag, am 10. November, begannen Massendeportationen von Juden in Konzentrationslager.
Genaue Zahlen sind nicht bekannt, doch es ist aufgrund der Datenlagen anzunehmen, dass bis Kriegsende im Mai 1945 etwa sechs Millionen Juden durch organisierte Maßnahmen des NS-Regimes getötet wurden.
Der Tag der Erinnerung an die Novemberpogrome soll bevorzugt an die Verbrechen und Schandtaten des NS-Regimes gegen die Juden als Bevölkerungsgruppe Deutschlands erinnern. Es geht darum, daran zu erinnern, wie leicht durch politischen Populismus und durch machtgierige Politiker Mitmenschen, auch als Gruppen der eigenen Bevölkerung, zu Feinden der Gesellschaft erklärt und zu Opfern staatlicher Willkür werden können.
Diese Gefahr, mit derartigen Strömungen konfrontiert zu sein, die auf populistische Weise Feindbilder gegen Minderheiten gezielt und organisiert entwickeln, ist bis heute in der Bundesrepublik Deutschland nicht gebannt. Im Gegenteil: Die Hetze gegen Minderheiten nimmt wieder erschreckend schnell zu. Betroffen sind wieder, aber nicht nur, Juden.
Besonders erschreckend ist dabei, dass sich selbst führende Politiker nicht scheuen, im Kampf um eine Wählerstimme und im Kampf mit politischen Gegnern rhetorische Stilmittel und eine Wortwahl anzuwenden, die Mitmenschen rücksichtslos zu Feinden der Gesellschaft erklärt und sie so zu Opfer einer politischen Gesinnung degradiert.
Diese Politiker nehmen es bewußt in Kauf, dass verblendete Empfänger ihrer Botschaften ihren Worten folgen und in radikaler Weise handeln. Aus den Opfern verbaler Attacken werden schnell Opfer von brutalen Übergriffen und von organisierter Gewalt. Die politische Situation in Deutschland vor der Pogromnacht ist Beispiel und Beleg dafür, wie sich so etwas Schritt für Schritt entwickelt. Die Vorkommnisse in der Gegenwart – nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland! – bestätigen diese systemischen Gefahren in bestürzender Weise.
So sind Tage der Erinnerung an derartige Ereignisse wie die Novemberpogrome 1938 und die Entwicklung dahin unbedingt nötig! Insbesondere jetzt, wo die Erfahrung mit solchen Geschehnissen nur noch als Überlieferung bewahrt werden kann. Allerdings: Sie helfen nicht gegen Belehrungsresistenz. Doch auch die nimmt zu.
Es wäre wohl an der Zeit, den 9. November als einen nationalen Gedenktag zu etablieren. Ein Tag, der die Regierung und den Bundestag mit allen Mitgliedern dazu verpflichtet, die Erinnerung ernst zu nehmen und aus ihr zu lernen. Ein Tag der dazu aufruft, im Denken, im Reden und im Handeln die Menschenrechte auch der Minderheiten uneingeschränkt zu achten und zu schützen. Ein Tag, der daran erinnert, dass die Würde jedes Einzelnen unantastbar ist. In der Erinnerung daran, wie leicht eine schreckliche Idee zu einem massenpsychologischen Phänomen in der Gesellschaft und schließlich zu einem politischen und gar staatlich organisierten Verbrechen ungeheuren Ausmaßes werden kann.
Abbildung: Opfer des Nationalsozialismus
Weibliche Häftlinge aus dem Außenlager Mehltheuer des Konzentrationslagers (KL) Flossenbürg zeigen die Tätowierungen der Häftlingsnummern auf ihren Unterarmen.
Die jüdischen Frauen, überwiegend aus Polen und Ungarn, mussten für den Rüstungsbetrieb Vogtländische Maschinenfabrik AG ("Vomag") Zwangsarbeit verrichten. Das Lager wurde im April 1945 von amerikanischen Truppen befreit.
Die Nummern beweisen, dass etliche Frauen ihre Inhaftierung in Birkenau (Auschwitz, Polen) überlebt hatten. Über das KL Bergen-Belsen (Provinz Hannover; Niedersachsen) und das KL Flossenbürg (Oberpfälzer Landkreis Neustadt; Bayern) wurden sie zur Zwangsarbeit nach Mehltheuer (Sachsen) überstellt.
Ihr einziges »Verbrechen« im Sinne nationalsozialistischer, politischer Verblendung: Sie waren Jüdinnen.
Ihr großes Glück: Anders als Millionen andere Juden haben sie in den Konzentrationslagern überlebt. Doch die schrecklichen Erinnerungen an Demütigungen, Folter, Hunger, Schmerz und Leid werden bis zu ihrem Lebensende ebenso wenig aus ihren Köpfen verschwunden sein, wie die Tätowierungen von ihren Armen.
Ihre Schicksale zeigen, wozu Menschen fähig sind, um Mitmenschen zu Opfern ihrer Gier zu machen, und welche Gefahren für jeden von uns von ideologisch verbrämten Machtinteressen skrupelloser Machtinhaber ausgehen.
Foto vom 7. Juli 1945, drei Monate nach der Befreiung des Lagers | Credit: USHMM, courtesy of National Archives and Records Administration, College Park | Photograph #66201 | Lizenz: Public Domain
Mit der neuen Gottesdienstordnung 2018/2019 für die evangelischen Kirchen wurde ein Gedenktag eingeführt, der insbesondere den Opfern des Holocaust gewidmet ist und ähnlich dem nationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus einerseits das Versagen gegenüber Machthabern und politischen Strömungen dokumentiert, andererseits der Gefahr der Wiederholung entgegen wirken möchte.
Allerdings stehen hier andere Aspekte im Vordergrund: Während der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ein politisch und gesellschaftspolitisch motivierter Gedenktag ist, ist der evangelische Gedenktag der Novemberpogrome ein Tag, der das Versagen der christlichen Kirchen und der überwiegenden Mehrheit der Christen in der Zeit des Dritten Reichs dokumentiert. Es ist ein Tag, der Schuld bekennt, der um Vergebung bemüht ist und der um die nötige Kraft bittet, sich jetzt und heute, morgen und in aller Zukunft gegen Antisemitismus, gegen Fremdenfeindlichkeit und gegen Intoleranz zu widersetzen.
Insbesondere für Christen, deren höchste Prämisse für zwischenmenschliche Beziehungen die Nächstenliebe ist, ist jede Form von Intoleranz ein Versagen im Glauben, ist jeder Gedanke und jede Tat, die Mitmenschen zu Opfern macht, ein Affront ihrer christlichen Kultur und ihres christlichen Bekenntnisses.
Intoleranz zerstört die Wurzeln unseres Glaubens.
Anders als die Politik haben die evangelischen Kirchen den 9. November als Gedenktag gewählt, der lange Zeit auch politisch als Gedenktag in der Diskussion stand. Als gesellschaftlichen Gedenktag der Novemberpogrome begehen auch viele politische Verbände und kulturelle Vereine den 9. November.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gab es vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen jüdische Mitbürger im gesamten Deutschen Reich. Dabei wurden Menschen getötet oder in den Suizid getrieben. Mehr als 1.400 Synagogen und Versammlungsräume für jüdische Mitbürger sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört.
Die Ereignisse bekamen unterschiedliche Namen wie »Reichskristallnacht«, »Reichspogromnacht«, »Judenpogrome«, »Nacht der langen Messer«, »Judenaktion«, »Vergeltungsaktion« u. a.
Heute hat sich die Bezeichnung »Novemberpogrome« durchgesetzt, die auch in der Titulierung des evangelischen Gedenktags verwendet wird.
Mit dem 10. November 1938 begannen auf Befehl des Chefs der Gestapo-Abteilung »Regimegegner« die Massenverhaftungen und Massendeportationen jüdischer Mitbürger. Damit war das Schicksal für viele Millionen Menschen besiegelt, die in den folgenden gut sechs Jahren allein aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit unsägliches Leid erfuhren und schließlich in der Tötungsmaschinerie des nationalsozialistischen Regimes ums Leben kamen.
Damit markieren die Novemberpogrome endgültig den Beginn der wohl dunkelsten Epoche deutscher Geschichte. Zwar gab es auch schon vorher zahllose Repressalien gegen Juden, zwar gab es auch schon vorher viele Enteignungen und Verhaftungen, doch nun war der »Point of no Return« überschritten. Nämlich der Punkt im Verlauf des Völkermordes und der Massenvernichtung, hinter den die Machtinhaber selbst nicht mehr zurücktreten konnten und wollten. Im Gegenteil: Die Erfolge, die sie aus ihrer Sicht während der Novemberpogrome einstrichen, ohne auf nennenswerte nationale und internationale Widerstände zu stoßen – nicht einmal von Seiten der christlichen Kirchen! – , beflügelte sie geradezu, noch brutaler, noch umfassender und noch unverschämter vorzugehen.
Die Mitschuld der Bevölkerung und aller, die sich Christen nannten, war unübersehbar: Die gesamte Aktion vom November 1938 wurde von den Medien (Presse, Rundfunk, Wochenschau im Kino) ausführlich dokumentiert. Gesetze, Verordnungen und Gerichtsurteile »im Namen des Volkes« wurden publik gemacht. Dennoch gab es in der Breite keinen Aufschrei in der Bevölkerung. Dennoch gelang es den Machthabern, ihre beispiellos brutalen und rigorosen Pläne durchzusetzen. Sie haben das deutsche Volk de facto als Täter und Mittäter vereinnahmt. Durch Propaganda, durch Massensuggestion, durch Gesetze und Verordnungen, die jeden Widerstand im Keim ersticken sollten.
Die Gefahren, dass sich so etwas wiederholt, dass sich Menschenmassen, dass sich ein Volk nicht mehr gegen die ideologisch verbrämten Machtinteressen weniger Verführer durchsetzen kann, sind stets gegeben.
Der Gedenktag der Novemberpogrome erinnert uns daran, welche Verantwortung wir für unsere Mitmenschen, für unsere Nächsten, tragen. Er erinnert uns daran, dass unsere kulturellen und religiösen Wurzeln, Demokratie, Humanismus und Christentum, weniger stabil sind, als wir annehmen. Sie wollen und müssen gepflegt werden, damit das, was aus ihnen erwächst, reichlich gute Früchte trägt.
In unserem Kalender zum evangelischen Kirchenjahr finden Sie den passenden Artikel zu diesem Tag:
Gedenktag am 9. November 2024
Der Artikel zeigt Spruch, Psalm, Liedauswahl und Bibeltexte für Lesungen und Predigten nach der Kirchenordnung.
Der Artikel informiert über den 27. Januar, der seit 1996 ein nationaler Gedenktag der Bundesrepublik Deutschland ist.
Der 8. Mai ist der Tag des Kriegsendes in Europa. Es ist zugleich der Tag der Befreiung vom NS-Regime.
Die Gewalt ist so alt wie die Menschheit. Bereits im ersten Mordfall der (biblischen) Geschichte stellt sich die Frage: Wo bleibt Gottes Schutz?
Gedanken über Gottes Schutz in diesem Artikel.