D ie Zeitung ist da. Aha. Ich habe es gestern schon in den Nachrichten gehört. Jetzt, beim Frühstück, lese ich es schwarz auf weiß: Dänemark führt wieder verstärkte Grenzkontrollen ein. »Ein schlechter Tag für Europa«, soll Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Entscheidung kommentiert haben. Und Brüssel lies wohl verlauten, man prüfe die Entscheidung auf Rechtmäßigkeit mit den Regeln des Schengen-Abkommens.
Das schlägt Wellen in Europa, und zwar Wellen der Empörung. Ich brauche noch einen Kaffee! Wieso bin ich so ruhig? Wieso geht mein Puls nicht hoch? Warum erfasst mich die Empörung nicht?
Ja, ist denn Europa tatsächlich gefährdet? Ziehen die dänischen Grenzer etwa neue Grenzen hoch? Da denkt man unwillkürlich an Stacheldraht und an Mauern und an Wachtürme, an Uniformierte mit Maschinenpistolen und an Hundestaffeln. Furchtbar! In einem schwammigen, irrealen Bild tut sich ein breiter Graben zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark auf. Die Dänen verschließen ihre Tür vor uns Deutschen und vor uns Europäern. Sie driften weg vom europäischen Kontinent. Na, sowas! Dänemark hält sich wohl für etwas Besseres und will plötzlich wissen, wer da Gast im Lande ist? Ja, ist das denn erlaubt? Horrorszenarien könnten wahr werden: Einreisegenehmigung, Reisepass, Visum, stundenlange Staus an den Grenzen, Personen- und Gepäckkontrollen … – da zerbricht die Idee des europäischen Staatenbundes – an Dänemark!
Stopp! Halt! – So ist das doch gar nicht! Oder doch?
Hmmm …, mal nachdenken! Ist es nicht gut, zu wissen, wer wo einreist und wer sich wo aufhält? Ich schaue auf meine eigene Haustür: Mehrfachverriegelung, Türspion, Türsprechanlage, Klingel draußen dran. Nicht nur ein Loch, vor dem ein Sack den Luftzug und die Kälte abhält. Die Tür ist auch nicht doppelt breit, um den rein- und rausströmenden Massen genug Platz zu bieten. Ja, genau dafür haben wir Haus- und Wohnungstüren! Um zu verhindern, dass einfach so jeder kommen und gehen kann, wie er will und wie es ihm beliebt. Und deshalb sprechen wir Einladungen aus und deshalb verweigern wir etlichen, die an die Tür klopfen, den Eintritt. Wir entscheiden, wer reinkommt und wer nicht und wir wollen jederzeit die Kontrolle behalten. Wir haben den Schlüssel, wir bestimmen.
Was ist so schlimm an Grenzkontrollen für das Zusammenleben in Europa? Discos haben ihre Türsteher und bei den Sicherheitskontrollen in Flughäfen, selbst bei innerdeutschen Flügen, ergeht es mir schlechter. Da muss ich nicht nur den Ausweis vorzeigen. Da werde ich angehalten, in aller Öffentlichkeit alles abzulegen, was die Sensoren der Kontrollgeräte zum Piepsen bringen könnte. Im Zweifelsfall bis zur Unterwäsche. Peinlich! Da wird mein Gepäck durchleuchtet. Bei unklaren Interpretationen oder einfach nur deshalb, weil man zufällig ausgewählt wurde, werden Koffer und Taschen geöffnet und inspiziert. Wieder in aller Öffentlichkeit. Da überlegt man vorher zweimal, was man einpackt, und ob man einen roten Kopf riskiert … Und niemand regt sich nachhaltig darüber auf! Ist das nicht toll? Na ja, es ist zumindest längst selbstverständlich. Aus gutem Grund: Es dient der Sicherheit. Und zwar der Sicherheit aller Gäste und Reisenden.
Europa wächst nicht dadurch zusammen, dass man auf sicherheitsrelevante Kontrollen verzichtet. Es wächst dann zusammen, wenn sich die Bürger der Mitgliedsstaaten als Europäer fühlen und als Europäer in Sicherheit und Frieden leben können. Können sie das? Wo bleibt die europäische Staatenbund-Bürgerschaft? Wann kommt der Europa-Ausweis, der die nationalen Ausweispapiere ablöst? Wann gibt es einheitliche Steuern, einheitliche Abgaben, einheitliche Preise, einheitliche Löhne, ein einheitliches Arbeitsschutzgesetz und die gegenseitige, unbedingte Anerkennung von Ausbildungen und Abschlüssen? Sind das nicht hervorragende Baustellen, die man angehen könnte, anstatt sich über Basics in der Sicherheitspolitik zu empören? Die Arbeit an diesen Baustellen könnte nämlich dazu beitragen, nationale Alleingänge wie diese dänische Entscheidung zu vermeiden.
Schlechte Tage für Europa erleben wir an ganz anderen Stellen: Die Finanzkrisen der europäischen Staaten sorgen für extrem schlechte Tage für Europa. Oder schauen wir mal kurz auf die Uneinigkeiten im Krisenmanagement mit Drittstaaten – da driftet Europa mächtig auseinander. Oder werfen wir einen Blick in den Katalog der offenen Fragen in der Inneren Sicherheit. Schon in Deutschland fehlen Konzepte, die sich über föderalistisch organisierte Zuständigkeitskompetenzen hinwegsetzen. Sie könnten beispielsweise den Polizeien und den Strafverfolgungsbehörden länderübergreifend Methoden, Verfahren und Werkzeuge an die Hand geben, um die Sicherheit in Deutschland zu erhöhen und den Beamten die Arbeit zu erleichtern. Wie soll sowas denn erst auf europäischer Ebene funktionieren? Ich passe auf meine Haustür auf, Sie auf Ihre, die Discotheken auf ihre Gäste, die Flughäfen auf ihre Reisenden, die Hessen auf ihr Hessenland, die Deutschen – wenn sie sich denn mal einig sind! – auf ihr Deutschland, und die Dänen auf ihr Dänemark. Klar, schöner wäre es schon, wenn irgendwo auch Europa zum Zuge käme, nicht nur im Schengener Abkommen.
Schlechte Tage für Europa? Wir meinen: ja, leider! Noch immer! Aber gebt jetzt bitte nicht den dänischen Grenzkontrolleuren die Schuld! Ihre Arbeit ist zweckbestimmt und sie tun sie aus gutem Grund: für mehr Sicherheit in Dänemark und damit für mehr Sicherheit in Europa. Zumindest so lange, bis die Europäer in uns wach werden und Europa etwas unternimmt. Oder habe ich da etwas falsch verstanden?