Die Zeit der Trauer
Wir befinden uns in den letzten Wochen des Kirchenjahres, die von Allerseelen, vom Volkstrauertag und vom Totensonntag dominiert werden.
Es ist Spätherbst. In unseren Breitengraden macht sich die Natur für den tiefen Winterschlaf bereit, aus dem heraus sie neu erwachen wird. Dunkle Wolken, Regen und Herbststürme wirken drückend, fallendes Laub markiert das endgültige Ende des Sommers.
Es geht um Vergänglichkeit. Entstehen, wachsen, sich entfalten: Das alles mündet unausweichlich in Vergänglichkeit. Ab und zu begegnet uns diese Vergänglichkeit hart und brutal. Dann erfasst uns Trauer.
Doch trauern auf Befehl? Weil es der Kalender vorschreibt? Was soll das? Und geht das überhaupt? Wozu sind sie gut, diese Gedenktage, die uns zum Trauern auffordern?
Was Trauer ermöglicht
Trauer ist ein emotionaler Zustand. Trauer ist von starken Gefühlen hervorgerufen, die uns aus unterschiedlichen Gründen ergreifen:
Es kann sich um den Tod eines geliebten Menschen handeln, es kann tiefe Niedergeschlagenheit über Ereignisse meinen, die uns direkt betreffen, aber womöglich auch fern von uns sind und uns doch sehr berühren.
Immer geht es um einen Verlust, verbunden mit einem Aufbegehren gegen die Erkenntnis der Unabänderbarkeit, verbunden mit Fragen nach der Sinnhaftigkeit, verbunden mit Gefühlen der Ohnmacht, der Hilflosigkeit und möglichen Versagens oder gar Schuld angesichts der Härte, mit der uns die Situation überwältigt.
Aktives Trauern meint, die Trauer zu verarbeiten. Aktives Trauern hilft, Schmerz, Leid und Ohnmacht zu überwinden, sie nicht nur geschehen zu lassen. Schmerz, Leid und Ohnmacht, die nicht bewältigt werden, hinterlassen tiefe Narben in der Psyche, Verhärtungen, die uns stumpf machen für Emotionen und Empathie.
So sind die staatlichen und religiösen Gedenk- und Feiertage Zeiten, die unsere Emotionen befeuern wollen. Es sind Zeiten, die uns helfen sollen, traurige Ereignisse adäquat zu verarbeiten, um neue Wege zu finden, sie zu überwinden. Denn ausweichen können wir ihnen nicht. Im Laufe unseres Lebens werden wir alle mit zahlreichen, traurigen Erlebnissen unterschiedlicher Qualität und Härte konfrontiert. Gut, wenn wir darauf vorbereitet sind!
Überwinden meint aber auch: Hoffnung gewinnen! Den Blick so auf jene Veränderung zu werfen, die das traurige Ereignis ausgelöst und begründet hat, dass neue Erkenntnisse gefunden werden. Es geht darum, neue, gangbare Wege sichtbar werden zu lassen. Es geht darum, die Psyche zu bestärken, um die starken Emotionen in zielgerichtetes, positives Handeln umzuleiten.
Ja, Trauer zeigt uns Grenzen auf. Doch die Chance besteht darin, aus der Trauer heraus Hoffnung entstehen zu lassen, die uns hilft, diese Grenzen zu überwinden.
Gedenken an Verstorbene ist Erkenntnis des Seins
Wir gedenken in den letzten Wochen vor der Adventszeit der Toten, der Verstorbenen, und damit unserer eigenen Herkunft.
Es gibt uns nur, weil es sie gab. Das ist uns durchaus klar. Aber ist es uns bewusst?
So kann Dankbarkeit die Trauer durchfluten. Dankbarkeit dafür, dass diese Menschen gelebt haben, dass sie Teil unserer Ahnenkette waren, und – dass sie gestorben sind.
Es gibt uns nur, weil dieses ewige Spiel des Sterbens und des Geborenwerdens so läuft, wie es läuft. Es gäbe keine Not, keinen Grund und sehr wahrscheinlich auch keine Chance, Kinder zu zeugen, wenn wir unsterblich wären.
Es gibt uns nur deshalb, weil eine unvorstellbar lange Kette von Vorfahren ihr individuelles Leben, ihre Lebenskraft, in der Zeugung an ihre Kinder weitergeben hat. Von Generation zu Generation. Und so durchflutet Hoffnung die Trauer, dass das Leben in kommenden Generationen auch (und hoffentlich besser!) gelebt werden kann. Auch dann, wenn manch eine Kette abreißt, weil Menschen keine Kinder zeugen oder zeugen können: Die Welt wird von Menschen bevölkert werden.
Es bleibt uns die Hoffnung, die im Christentum fest verankert ist, dass diese Menschen dann klug genug sind, sich an ethischen und moralischen Regeln zu orientieren, die ihnen eine bessere Welt bieten und somit ein besseres Leben ermöglichen. Gestalten jedoch müssen sie dies alles selbst.
Unsere Aufgabe unterscheidet sich davon nicht. Wir können uns nicht schulterzuckend von dieser Verantwortung befreien. Der Blick auf die Ahnen lehrt uns: Erst waren sie, nun sind wir an der Reihe. Wir legen das Fundament für das Leben unserer Nachkommen, unserer eigenen und der unserer Mitmenschen. Wir tun es schon allein durch unser Dasein. Es lässt sich nicht verhindern! Dann sollten wir auch bewusst und verantwortungsvoll damit umgehen.
Die Tage der Trauer sind keine Aufforderung dazu, in Traurigkeit zu versinken. Vielmehr erinnern sie uns daran, das Leben, unser Leben und das unserer Kinder, an Werten auszurichten, die uns allen wichtig sind. Sie geben uns die Chance, mal etwas langsamer zu treten, in ein erholsames Nachdenken zu fallen, um daraus neu zu erwachsen, voll mit neuen Inspirationen, Ideen und Erkenntnissen.
Es geht darum, das alte Laub abzuwerfen, um Kraft zu sammeln, damit sich neue Triebe bilden. Und wo? In unserem Denken, Reden und Handeln.